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Algebra in Trattenbach

Von Leo Leitner

Reflexionen

Ludwig Wittgenstein war eine Zeit lang als Volksschullehrer in Niederösterreich tätig. Diese Episode im Leben des Philosophen war jedoch - für ihn wie für seine Schüler - äußerst mühevoll.


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Ludwig Wittgenstein, geboren am 26. April 1889 in Wien, gestorben am 29. April 1951 in Cambridge, entstammte einer der reichsten Familien Österreichs. Bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr erhielt er - wie seine sieben Geschwister - häuslichen Unterricht. An der Oberrealschule in Linz legte er 1906 die Reifeprüfung ab. Den Plan eines Physikstudiums an der Universität Wien verwarf er, als er vom Freitod Ludwig Boltzmanns erfuhr. Er ging nach Berlin und später nach Manchester, wo er an den Technischen Hochschulen studierte.

Das Jahr 1911 wurde zum existenziell entscheidenden Einschnitt seines Lebens. Er lernte die "Principia mathematica" von Alfred N. Whitehead und Bertrand Russell kennen, brach das Technikstudium ab, ging nach Cambridge, traf dort Russell persönlich (der später seinen "German friend" (!) als ermüdende Plage, aber nicht dumm einstufte) und widmete sich ganz der Philosophie der Mathematik.

Es ergaben sich erste Ansätze für die "Logisch-philosophische Abhandlung", für die später aus der englischen Ausgabe der Titel "Tractatus logico-philosophicus" übernommen wurde.

In Tolstois Spuren

Wittgenstein war für den Militärdienst untauglich, rückte aber dennoch nach Ausbruch des Krieges 1914 zur Armee ein. Dass er niedere Dienste in einer Werkstätte oder an Bord des Wachschiffes "Goplana" bei Patrouillenfahrten auf der Weichsel leisten musste, kümmerte ihn wenig, fand er doch genügend Zeit für seine Denkarbeit. "Bin guter Stimmung, habe wieder gearbeitet . . . am besten kann ich jetzt arbeiten, während ich Kartoffel schäle. Melde mich immer freiwillig dazu. Es ist für mich dasselbe, was das Linsenschleifen für Spinoza war."

Die Männer um ihn belächelten den "Mann mit dem Evangelium". Er hatte in Krakau den schmalen Band "Kurze Darlegungen des Evangeliums" des russischen Dichters Leo Tolstoi erstanden, in dem er häufig las. Aus der Tolstoi- Lektüre kam der Anstoß für die Idee, Lehrer zu werden. Wie der große Russe wollte er die Kinder einfacher Bauern unterrichten, "sie aus dem Dreck ziehen".

Wittgenstein hatte den Krieg gesucht und litt unter ihm. Nach schweren Einsätzen an vorderster Front wurde er mit der Goldenen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet und zum Leutnant befördert.

Im Sommer 1918 schloss er die sieben Sätze seiner "Abhandlung" ab. Er hatte zwischen dem Beginn - "Die Welt ist alles, was der Fall ist" - und dem wohl am meisten zitierten Schlusssatz - "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen" - seine Philosophie in einem Gebäude von Aphorismen gebündelt und die Grundprobleme der Philosophie endgültig geklärt.

Wenige Tage vor Kriegsende kam der Leutnant Wittgenstein bei Triest in italienische Kriegsgefangenschaft. Im Lager von Cassino traf er die Lehrer Ludwig Hänsel und Franz Parak. Die Gespräche mit ihnen vertieften seinen Entschluss für ein künftiges Leben als Lehrer.

Am 26. August 1919 wurde er offiziell aus der italienischen Kriegsgefangenschaft entlassen und konnte nach Wien zurückkehren. Die Phase eines einfachen, fast mönchischen Lebens setzte ein. Er verteilte sein großes Vermögen, kleidete sich nachlässig und zog in ein bescheidenes Untermietzimmer.

Schwierige Ausbildung

Unterstützt von Ludwig Hänsel, der auch in den kommenden Jahren ein verständnisvoller Freund und Berater war, wandte sich Wittgenstein an den Direktor der Lehrerbildungsanstalt in der Kundmanngasse im dritten Wiener Gemeindebezirk mit dem Ersuchen um Aufnahme in diese Anstalt.

Dem Ansuchen wurde stattgegeben, der ehemalige Leutnant der Reserve wurde als "Zögling" Nr. 42 in den vierten Jahrgang des Schuljahres 1919/20 eingereiht. "Ich gehe in die Lehrerbildungsanstalt, um Lehrer zu werden. Ich sitze also wieder in einer Schule; und das klingt komischer als es ist . . . die Demütigung für mich ist eine so große, dass ich sie oft kaum ertragen zu können glaube! . . . Dort sitzen lauter Buben von 17/18 Jahren, und ich bin schon 30. Das gibt sehr komische Situationen und oft sehr unangenehme. Ich fühle mich oft unglücklich!"

Dass er für die "Abhandlung" noch keinen Verleger gefunden hatte, belastete ihn. Aber in der Schule hielt er durch, erzielte befriedigende bis lobenswerte Leistungen, sein ausdauernder Fleiß wurde anerkannt und der Direktor sprach ihn als "geschätzter Studierender" an. Am 5. Juli 1920 legte er mit Erfolg die Reifeprüfung ab und wurde "somit zur provisorischen Anstellung als Unterlehrer oder Lehrer an öffentlichen Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache für befähigt erklärt".

Die erste Stelle

Im südöstlichen Niederösterreich fand er das Dorf und die Schule, die den Vorstellungen für seine pädagogische Arbeit entsprachen. "Ich bin jetzt endlich Volksschullehrer und zwar in einem sehr schönen und kleinen Nest, es heißt Trattenbach (bei Kirchberg am Wechsel, NÖ). Die Arbeit in der Schule macht mir Freude."

Aus den Briefen dieser Zeit kann man die Freude und die Entschlossenheit zur Arbeit spüren. Er hatte wie Tolstoi das Feld gefunden, auf dem er wirken konnte. Aber wird sich der "Junglehrer", ein Herr aus der Großstadt mit einer fast fremden Sprache, in die Lebensstrukturen der Kinder, die von den Bauernhöfen, aus bescheidenen Handwerksbetrieben oder aus den Wohnungen der Fa-brikarbeiter kamen, hineindenken und vielleicht sogar einleben können?

Die Bilanz nach einem Jahr war erschreckend. Er schrieb: " . . . nicht die Trattenbacher allein sind schlechter als alle übrigen Menschen; wohl aber ist Trattenbach ein besonders minderwertiger Ort in Österreich und die Österreicher sind - seit dem Krieg - bodenlos tief gesunken . . . Es ist wahr, dass die Menschen im Durchschnitt nirgends sehr viel wert sind; aber hier sind sie viel mehr als anderswo nichtsnutzig und unverantwortlich."

Die Anforderungen, die er an seine Schüler stellte, waren übertrieben hoch. Im Lehrplan wurde ein "volkstümliches Rechnen" verlangt; dies ignorierte er und beschäftigte seine Schüler mit der Algebra. Die Unterrichtszeiten waren genau geregelt; daran fühlte sich Wittgenstein nicht gebunden, er strich sehr oft die Pausen und verlängerte die Unterrichtszeit mitunter bis zu einer Stunde. Er achtete auch nicht darauf, ob alle Schüler mit dem Fortgang im Unterricht mitkommen konnten, widmete sich fast ausschließlich den Begabteren, für die er auch zusätzliche Stunden vorsah, und scheute nicht davor zurück, die große Gruppe des Mittelmaßes abzuwerten.

Watschen und Rohrstab

Dass er bei falschen Antworten oder Nichtwissen Watschen und Rohrstab als Erziehungsmittel einsetzte, war Grund genug dafür, dass ihn Eltern und viele Schüler ablehnten, ja sogar hassten. Die Eltern rebellierten, die Kollegen lehnten seine Methoden ab, Wittgenstein war isoliert. Da nutzte es nichts, dass er - von seinen Schwestern unterstützt - Bücher und Unterrichtsbehelfe beschaffte und für ärmere Schüler finanzielle Zuwendungen leistete. Selbst sein Erfolg bei der Reparatur einer Maschine in der örtlichen Wollfabrik änderte nichts an der Tatsache, dass Wittgenstein als Lehrer gescheitert war.

In der Liste aller Trattenbacher Lehrer, die in den Dreißigerjahren angelegt wurde, ist sein Name nicht erwähnt. Erst als nach dem Tod des Philosophen eine Wittgenstein-Welle die versteckten Schulorte erreichte und Kirchberg am Wechsel ein Wittgenstein-Zentrum wurde, spürte man auch in Trattenbach die Attraktivität des ehemaligen Lehrers. Seine Wohnkammer im Gasthof zum "Braunen Bären" wurde ein bescheidener Schauraum, der Weg zum Trahthof ein mit Wittgensteinschen Sätzen markierter "Philosophenweg". Zutiefst berührt ein Satz, den ein Schüler aus Trattenbach seinem ehemaligen Lehrer schrieb: "In Puchberg wird es hoffentlich schöner sein als hier in Trattenbach."

Die zwei Schuljahre in Puchberg am Schneeberg (1922/23 und 1923/24) waren wohl die beste Zeit seiner "Lehrerei". In einer ehemaligen Waschküche hatte er den für ihn richtigen Arbeits- und Schlafplatz gefunden, die Eltern seiner Schüler akzeptierten die hohen Anforderungen und seine Strenge im Umgang mit den Kindern. Über die Musik entwickelte sich die Freundschaft mit seinem Lehrerkollegen Rudolf Koder, durch den er auch zum Arbeitergesangsverein kam. Mit den Kindern in der Klasse sang Wittgenstein nie, er pfiff die Melodien oder spielte sie auf seiner Klarinette.

Vorliebe für Begabte

In den Unterricht seiner Klasse baute er nicht nur die auch hier gefürchtete Algebra, sondern auch weitere Lehrstoffgebiete der Realschule ein. Der "Ichmensch" Wittgenstein betrieb zwar intensiven Anschauungsunterricht, aber die Kinder sollten das von ihm Entdeckte und Dargelegte übernehmen. Lernen als Drill und Abrichtung!

Die "stark zurückgebliebene Klasse" der 4. Schulstufe, die er übernommen hatte, wurde durch seinen Unterricht eine "Musterklasse", die untermittelbar in die 2. Klasse der Bürgerschule hätte übertreten können.

Für besonders begabte Schüler richtete er einen Privatunterricht ein, um sie auf das Gymnasium vorzubereiten. Die Idee der Förderung einer Elite, die der sozialdemokratische Schulreformer Otto Glöckel ursprünglich mit den neuen Bundeserziehungsanstalten verband, entsprach seinen Vorstellungen.

In Otterthal (September 1924 bis April 1926), dem letzten seiner Schulorte, arbeitete er an einem "Wörterbuch für Volksschulen". Das Sammeln und Ordnen der Wörter, die von den Schülern verwendet wurden, war ein steter Auftrag im Unterricht. Wortlisten wurden erstellt und zu einem Nachschlagewerk erweitert, das auch entsprechend genutzt werden sollte.

"Das Wörterbuch für Volksschulen" erschien im Jahr 1926, es war nach dem "Tractatus" das zweite und zugleich letzte Werk des Philosophen, das zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde.

Ein tragischer Vorfall in der Schule von Otterthal - ein von Wittgenstein geschlagener Schüler fiel in Ohnmacht - bedeutete das Ende seiner Arbeit als Lehrer. Ludwig Wittgenstein war ein genialer Denker und Wissensdarsteller - aber kein Pädagoge!

Leo Leitner, Sektionschef i. R., war zunächst als Lehrer und Erzieher tätig und leitete von 1970 bis 1992 die Allgemeine Pädagogische Sektion im Unterrichtsministerium. Er betreute auch als Kurator die Theresianische Akademie in Wien.