Plädoyer gegen gängigen Anspruch auf Absolutheit. | Rückfälle sind nicht zwangsläufig Therapieversagen. | Wien. Punschtrinken für den guten Zweck, Umtrunk mit den Kollegen, Weihnachtsfeiern und Familienfeste: Für rund 870.000 Österreicher ab 16 Jahren beginnt demnächst eine bedrohliche Zeit. Sie sind laut dem Anton Proksch Institut für Suchtkrankheiten ernsthaft gefährdet, vom Alkohol abhängig zu werden. Rund 330.000 sind es bereits und bedürfen der Behandlung.
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Ob diese erfolgreich ist, bedarf einer anderen Sicht, sagt Univ.-Prof. Michael Musalek, Primarius des Instituts: "Wenn man Fragen zur Prognose im Allgemeinen und zu den Behandlungserfolgen im Besonderen beantworten möchte, muss vorerst geklärt werden, was das Therapieziel sein soll, was als Behandlungserfolg gewertet wird." Gerade bei chronischen Erkrankungen, bei denen definitionsgemäß keine völlige Wiederherstellung erreicht werden könne, sei die Festlegung des jeweiligen Behandlungsziels von Bedeutung."Wenn wir nur einige wenige chronische Erkrankungen wie zum Beispiel den Diabetes mellitus oder die chronische Hypertonie oder eine chronische Polyarthritis herausgreifen, dann wird deutlich wie unterschiedlich Behandlungsziele sein können."
Andere Maßstäbe
Erste Behandlungsziele bei solchen chronischen Erkrankungen seien natürlich primär im Normbereich liegende Werte von Blutzucker, Blutdruck etc. beziehungsweise die Schmerzfreiheit, zweites Hauptziel die Verhinderung von typischen Sekundärschäden und die Verschlechterung der Grunderkrankung.
Aber, so Musalek: "Niemand würde es sich etwa zum Therapieziel machen, dass nie wieder eine Blutzuckererhöhung bzw. -erniedrigung auftreten dürfe, auch wenn dies ohne Zweifel der Idealfall wäre. Man würde natürlich nicht von einem Therapieversagen sprechen, wenn ab und zu Blutzuckerspiegel in den pathologischen Bereich ausschlügen; überhaupt dann nicht, wenn die Erhöhungen bzw. Erniedrigungen nicht allzu stark ausgeprägt sind, nur selten auftreten und vor allem zu keinen klinischen Symptomen bzw. massiven Lebensbeeinträchtigungen führen."
Bei der Bewertung von Behandlungserfolgen bei der Alkoholkrankheit wird jedoch mit anderen Maßstäben gemessen als bei anderen chronischen Erkrankungen. Musalek: "Hier zählt als Behandlungserfolg für viele nur das theoretisch zu erreichende Maximum: Bei bereits auch körperlich abhängigen Alkoholkranken ist dies die lebenslange Abstinenz, da ein moderates und weitgehend kontrolliertes Trinken, zumindest über längere Zeiträume, dann nicht mehr möglich ist. Nur wenn lebenslange Abstinenz erreicht wird, darf von einem Therapieerfolg gesprochen werden. Das Auftreten eines Rückfalls, bei anderen chronischen Erkrankungen als Krankheitsrezidiv bezeichnet, tilgt die vorangegangene Zeit der Abstinenz, selbst dann, wenn sie von erheblicher Dauer war."
Entmutigendes Urteil
Bei Rückfällen, selbst wenn sie ohne wesentliche Auswirkung auf den körperlichen und psychischen Zustand sowie auf die soziale Situation bleiben, werde aber von einem Therapieversagen oder gar von sehr schlechter Prognose der Erkrankung gesprochen.
Der Experte: "So sagte beispielsweise der Ehegatte einer sich bei mir in Behandlung befindlichen Alkoholkranken, der selbst Internist ist, nach einem Rückfall seiner Frau: Wird denn diese Krankheit nie besser? Gibt es gar kein Chance auf effektive Behandlung? Obwohl der Rückfall nach einem Jahr der völligen Abstinenz auftrat und nach zwei Tagen wieder zielführend behandelt werden konnte sowie ohne wesentliche Beeinträchtigungen einherging, führte er zu Verzweiflung und Entmutigung." - Ein Absolutheitsanspruch, dem weder Ärzte noch Patienten gerecht werden können, sagt Musalek.
An diesem Beispiel - nur einem unter vielen - werde deutlich, wie unterschiedlich die Alkoholkrankheit im Vergleich bewertet wirde. Und: "Durch die dadurch entstehenden Versagensängste und -gefühle werden alle Beteiligten entmutigt, womit diese (in den meisten Fällen völlig ungerechtfertigte) negative Bewertung der Prognose zum krankheitserhaltenden Moment werden kann."
Deutlich besser
Bewerte man die Alkoholkrankheit wie jede andere chronische Erkrankung, zeige sich, dass selbst dann, wenn man nur die Abstinenz als Erfolgskriterium heranziehe, die Prognose vergleichsweise sogar deutlich besser einzustufen sei. Denn welcher sonst chronisch Kranker habe über Jahre hinaus nie mehr abnorme Blutwerte oder Rückfälle? Musalek: "Im Gegensatz dazu gibt es eine ganze Reihe von Alkoholkranken, die über sehr lange Zeiträume überhaupt keine Rückfälle haben, manche sogar lebenslang keine mehr. Daneben gibt es eine große Gruppe von Kranken, die nur einige wenige Rückfälle haben, die ihrerseits ohne wesentliche körperliche, psychische bzw. soziale Auswirkungen bleiben."