Der EU liegt mehr an der Visaliberalisierung für Türken als Ankara selbst, sagt der Politikberater und Türkei-Experte Gerald Knaus. Im Interview spricht er über die Gefahr eines Rundumschlags gegen Kritiker und die Verunsicherung der Türken.
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"Wiener Zeitung": Sie haben den sogenannten Merkel-Plan, den Flüchtlingsdeal mit der Türkei, entworfen. Was bedeuten die Ereignisse in der Türkei für den Deal? Wird er scheitern?
Gerald Knaus: Kurzfristig bedeutet das noch nicht sehr viel. Der dramatische Rückgang in der Anzahl der Flüchtlinge, die über die Ägäis aus der Türkei nach Griechenland kommen – von 1400 am Tag Mitte März auf rund 40 täglich in den vergangenen Monaten – ist relativ stabil. Die Kommenden haben das Gefühl, das bringt nichts – wer sich jetzt auf den Weg macht, riskiert, auf den Inseln festzusitzen und zurückgeschickt zu werden. Dabei wurde von jenen, die in Griechenland in den vergangenen drei Monaten einen Asylantrag gestellt haben, noch niemand zurückgeschickt. Das liegt auch an der offenen Frage, ob die Türkei ein sicherer Drittstaat ist.
Wie schätzen Sie die Lage nun ein? Ist die Türkei noch ein sicherer Drittstaat?
Diese Frage, die seit Freitag noch schwieriger zu beantworten ist, ist essenziell für das mittelfristige funktionieren des Abkommens. Die EU und die Türkei müssen nachweisen, dass die Türkei für die, die zurückgeschickt werden, sicher ist. Das ist bei den derzeitigen chaotischen Zuständen schwierig. So gesehen hat die EU ein vitales Interesse daran, dass in der Türkei Ordnung, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit so schnell wie möglich zurückkehren.
Die EU-Kommission ist weiter zuversichtlich, was die Visaliberalisierungen für Türken betrifft. Überrascht Sie das?
Es ist ironisch: Die EU hat objektiv sogar ein größeres Interesse daran, die Visaliberalisierung für kurze Reisen jetzt anzubieten als die türkische Führung. Derzeit ist es so, dass rund zwei Millionen Türken die grünen Pässe für Staatsangestellte haben, die es ihnen und ihren Familien erlauben, visumfrei zu reisen. Es bestimmt also nur die türkische Regierung darüber, wer visumfrei in die EU reisen kann. Bei einer fairen Visaliberalisierung hätten auch einfache Bürger und Kritiker des Regimes diese Möglichkeit. Das wäre auch aus der Sicht der Menschenrechte eine gute Sache: Menschen, die Angst vor Repressionen haben, könnten dann einen Asylantrag in der EU stellen. Zudem würde es der EU ein Argument in die Hand geben: Die Visafreiheit zurückzunehmen, wenn sich die Situation in der Türkei verschlechtert, ist ein besseres Druckmittel, als sie nicht anzubieten. Derzeit herrscht in der Türkei bei vielen Bürgern das Gefühl, die EU habe es nie ernst gemeint und sucht nur nach Entschuldigungen. Die EU-Kommission hat Recht, wenn sie weiterhin darauf drängt, auch weil die Visaliberalisierung als zentrales Versprechen mit einen Erfolg des Flüchtlingsabkommens und damit mit einem vitalen EU Interesse verbunden ist.
Deutschland und Österreich erhöhten den Druck auf Ankara. Riskiert Erdogan einen offenen Bruch mit der EU?
Die Beitrittsverhandlungen liegen seit langem auf Eis. Die rechtliche und politische Lage ist klar: Ein Land kann der EU beitreten, wenn es die Bedingungen erfüllt und wenn alle 28 Mitlieder dafür sind. Davon sind wir heute so weit entfernt wie von der Vorstellung, dass Angela Merkel eine olympische Goldmedaille gewinnt. Gleichzeitig ist die Idee, dass die Türkei eines Tages beitreten könnte, wenn sie alle EU-28 überzeugen würde, immer noch wertvoll. Denn wenn wir sie aufgeben, dann landet die Türkei in der gleichen Kategorie wie Algerien, Ägypten, Aserbaidschan. Das sind alles Länder, in denen die EU, was Menschenrechte betrifft, überhaupt keinen Einfluss hat. Die Idee aufrecht zu erhalten gibt der EU heute auch die Möglichkeit, einige klare rote Linien zu ziehen. Das betrifft die Wiedereinführung der Todesstrafe, aber auch die Frage von Folter, die es in der Türkei in den 1980er und 1990er Jahren in großem Ausmaß gab. Es ist wichtig, dass die EU klar spricht. Die Amerikaner können das nicht, denn sie haben nach dem 11. September 2001 gezeigt, dass sie selbst der Versuchung, bei Terrorgefahr zu Folter zu greifen, nicht wiederstanden haben. Und sie haben auch die Todesstrafe.
Ist die Kooperation im Kampf gegen den IS durch die Spannungen mit Washington in Gefahr?
Die Beziehungen zwischen der USA und der Türkei beruhen, wie auch die Beziehungen zur EU, heute kaum auf Vertrauen, sondern auf Interessen. Die Türkei hat ein Interesse daran, mit den Amerikanern im Kampf gegen Terrorismus zu kooperieren. Der IS ist ja auch für die Türkei eine große Gefahr, bringt dort Menschen um. Was die mögliche Auslieferung Fethullah Gülens betrifft, den die Türken beschuldigen, hinter dem Putsch zu stehen, werden sich die Amerikaner auf die Position des US-Rechtsstaats zurückziehen und sagen, das entscheidet in den USA nicht die Regierung, sondern unabhängige Institutionen. Hier muss die Türkei Beweise vorlegen.
Erdogan verweist auf Frankreich beim Ausnahmezustand und der Aussetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dabei gibt es hier gravierende Unterschiede…
Die gibt es. Und: ein Ausnahmezustand war in der Türkei in den vergangenen Jahrzehnten schon oft in Kraft. Das war immer etwas anderes als derzeit in Frankreich. Auch die Suspendierung einer großen Zahl von Richtern, Lehrern und Beamten deuten an, dass der Ausnahmezustand in Ankara anders umgesetzt wird als in Paris. Man wird sehen müssen, wie nun die Prozesse laufen. Bei einem derart gravierenden Eingriff in den Rechtsstaat wie bei diesem Putsch, bei dem das Parlament bombardiert wird und Putschisten in die Menge schießen ist klar, dass es zu Verhaftungen und Prozessen kommen muss. Aber die türkischen Gerichte haben bei politischen Prozessen in den letzten Jahrzehnten eigentlich immer versagt. Und Gerichte waren nie unabhängig. Da wird es schwierig, Gerichtsverhandlungen zu haben, die rechtsstaatlichen Ansprüchen entsprechen. Das ist sehr schade, denn es wäre wichtig, aufzudecken, wie es zu diesem Putsch kam.
Wie lange schätzen Sie wird der Ausnahezustand anhalten?
Die Erfahrung in Frankreich zeigt, dass die Versuchung da ist, ihn immer wieder zu verlängern. Es ist ja nicht nur der Putsch, es gab in der Türkei zuletzt viele Terroranschläge. Das enorme Misstrauen innerhalb der Sicherheitskräfte selbst unterminiert dazu deren Fähigkeit, gegen Terrorismus zu kämpfen. Derzeit befasst sich der türkische Sicherheitsapparat hauptsächlich mit sich selbst. Das ist für die Türkei ein Problem und auch für seine Verbündeten in der Nato.
In Südostanatolien ist man daran gewohnt, aber wird der Ausnahmezustand in der türkischen Bevölkerung früher oder später auf Widerstand stoßen?
Die Verunsicherung in der Bevölkerung ist groß, das wird außerhalb des Landes unterschätzt. Die Tatsache, dass sich alle Parteien, auch die sehr Erdogan-kritischen, geschlossen gegen den Putsch gestellt haben, noch bevor klar war, ob er Erfolg hat, ist ein starkes Anzeichen dafür, wie traumatisch die letzten Militärinterventionen in der Türkei für die gesamte Bevölkerung waren. Die Angst vor Militärinterventionen und Terrorismus gibt der Regierung für ihre harten Maßnahmen einen gewissen Spielraum. Und gleichzeitig wächst bei anderen die berechtigte Sorge, dass das die letzten Formen von Kontrolle über die Exekutive aushöhlt. Das polarisiert die Gesellschaft weiter.
Hat Erdogan jetzt endgültig gewonnen, wird er seine Präsidialrepublik durchsetzen?
Nein. Die Entwicklung in der Türkei in den vergangenen Jahren haben alle Elemente einer griechischen Tragödie: Das, was der Hauptprotagonist zu erreichen versucht, nämlich Sicherheit und zu kontrollieren, entgleitet ihm durch die Schritte, die er selbst einleitet. Die Tatsache, dass nun auch einige von Erdogans engsten Militarberatern verhaftet wurden, zeigt, wie wenig Kontrolle die Regierung über Schlüsselinstitutionen hatte. Es zeigt sich einmal mehr, dass wirkliche Kontrolle eben doch nur durch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gewährleistet ist. Ich glaube nicht, dass einige Tage nach diesem Putschversuch, mit dem in dieser Form niemand gerechnet hat, jemand davon sprechen kann, dass Erdogan gewonnen hat. Es wäre ein Pyrrhussieg.
Zehntausend Festnahmen gab es innerhalb von nur einer Woche nach dem Putsch. Alles Folge von Untersuchungen oder waren die Maßnahmen der türkischen Regierung nach dem vereitelten Putsch von langer Hand geplant?
Es ist schlechte türkische Tradition, Listen von verdächtigen Leuten zu führen. Der alte Nationale Sicherheitsrat war darauf spezialisiert. Auf diesen Listen standen und stehen viele Leute, bei denen nicht einmal der Versuch gemacht wird, ihnen etwas nachzuweisen. Viele dieser Massensuspendierungen sind auch ein Zeichen von Schwäche. Hätte man gewusst, wer einen Putsch plant oder gegen die Regierung vorgehen könnte hätte man nicht so viele Verschwörer in Schlüsselpositionen im Militär belassen. Das ist ein Versuch, im Nachhinein Stärke zu demonstrieren und Leute einzuschüchtern. Doch wenn Verhaftungen nicht auf objektiven Informationen beruhen sondern auf Verdächtigungen, dann ist keiner sicher.
Rechnen Sie damit, dass nun viele kritische Stimmen aus der Türkei fliehen werden?
Ich weiß von einigen konkreten Fällen von festnahmen. Ein anerkannter Menschenrechtsanwalt, der die AKP in ihren Zeiten der demokratischen Reformen unterstützt hat, wurde auf dem Istanbuler Flughafen festgehalten. Die Idee, dass jemand wie Orhan Kemal Cengiz mit einem Putschversuch in Verbindung stehen könnte ist völlig absurd. Solche Fälle zerstören jede schon geringe Glaubwürdigkeit, dass es bei Verhaftungen und Untersuchungen tatsächlich darum geht, die Strukturen, die durch den Putsch offensichtlich wurden, zu untersuchen. Es wäre wichtig wenn die EU Prozessbeobachter in die Türkei schickt – immer mit dem Argument, dass man eine Aufklärung unterstützt, aber keine auf Verschwörungstheorien aufbauende, nicht rechtsstaatliche Massenprozesse.