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Alle gespalten gegen Putin

Von Boris Reitschuster

Politik

Russlands Opposition ist in der Frage des Umgangs mit dem Kreml tief zerstritten, wie das Forum in Vilnius deutlich machte.


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Vilnius. Der Westen hat die Zukunft von Wladimir Putin selbst in der Hand, glaubt Garry Kasparow: Wenn den Reichen und Mächtigen in Moskau klar werde, dass der Präsident für sie ein Klotz am Bein sei - etwa wegen massiven Sanktionen, Einreise- und Kontosperren -, würden sie sich selbst gegen Putin stellen und für einen Machtwechsel sorgen, meinte der frühere Schachweltmeister und heutige Oppositionspolitiker beim "3. Forum Freies Russland" in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Kasparow fordert schärfere Sanktionen. Die Nutznießer des Systems erwarten von Putin, dass er ihnen die Sicherheit ihres dubiosen Kapitals garantiere: "Wenn der Westen dafür sorgt, dass Putin diese Aufgabe nicht mehr erfüllen kann, wird es eng für ihn."

Bei dem Treffen, an dem laut Organisatoren mehr als 300 Vertreter aus 32 russischen Regionen und aus der Emigration teilnahmen, wurde klar, wie tief die Spaltung der russischen Opposition im 18. Jahr der Ära Putin ist. Die meisten Oppositionellen in Russland "tun so, als gäbe es Wahlen, und daraus ziehen sie dann Konsequenzen für ihr Handeln - wir haben diese Illusion nicht, wir nehmen keine Rücksicht", sagte Kasparow: "Es gibt keine Wahlen in Russland, nur einen einzigen Wähler - und der sitzt im Kreml."

Rund zwei Wochen vor dem Forum in Vilnius am Donnerstag und Freitag trafen sich andere russische Oppositionelle zum "Vilniuser Russländischen Forum", darunter der frühere Yukos-Chef und spätere politische Gefangene Michail Chodorkowski. Der Graben zwischen den Oppositionsgruppen ist so tief, dass man zuweilen fast den Eindruck hat, die Abneigung gegeneinander sei tiefer als die gegen den Kreml, wie ein Teilnehmer am Rande des Forums im Hotel "Radisson Astorija" spottete.

Hauptstreitpunkt: der Umgang mit dem System Putin, mit der Ukraine und mit den Sanktionen. Auf dem Forum um Chodorkowski forderten viele Teilnehmer eine Abschaffung oder zumindest Lockerung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Für die Okkupation der Krim und Putins Großmachtambitionen herrsche in diesen Kreisen und auch bei dem neuen Star der Opposition, Alexej Nawalny, durchaus Sympathie - lautet der Vorwurf der Oppositionellen um Kasparow, die ihrerseits die Krim-Besetzung und die Aggression gegen die Ukraine scharf verurteilen.

Putin nur Teil des Problems

Kasparow und seine Mitstreiter halten nicht Putin für das größte Problem in Russland - sondern das System, das sich im Wesentlichen auf den Geheimdienst stützt, und das imperialistische Gedankengut. Die konkurrierenden Oppositionsgruppen, so der Vorwurf von Kasparow und seinen Vertrauten, stellten dagegen zum Teil weniger das System in Frage als nur die Person Putins. Es herrsche die Illusion vor, die Probleme Russlands seien durch einen Abgang Putins zu lösen, so Kasparow. "Das ist eine Illusion."

Bei zahlreichen Oppositionellen vermisst Kasparow und seinen Mitstreitern die Distanzierung vom "großrussischen Chauvinismus". Ohne ein Loslösen vom imperialen Gedankengut und National-Chauvinismus sowie ohne Aufarbeitung der Rolle der Geheimdienstdienste sei ein demokratisches Russland undenkbar, ist Kasparow überzeugt. Nach dem Ende des Systems Putin müsse ein klarer Bruch erfolgen.

Auch aufgrund dieser Haltung werden der frühere Schachweltmeister und seine Mitstreiter von Konkurrenten in der Opposition als "Radikale" bezeichnet. Kasparow wiederum wirft seinen Widersachern vor, zu viel Rücksicht auf Putin zu nehmen und dem System zu weit entgegenzukommen. "Wir hier können frei reden, ohne Rücksicht zu nehmen auf irgendjemand, wir sprechen hier über Fragen, die für die Opposition in Russland tabu sind", betonte der Ex-Schach-Weltmeister unter lautstarkem Applaus.

Wirtschaftsexperten erklärten auf dem Forum in der Hauptstadt Litauens, ein Kollaps des Systems sei nicht zu erwarten - die Reserven der Staatskasse reichten noch viele Jahre. "Die Hoffnung, dass die Wirtschaftskrise die Einstellung der Menschen zum Regime ändern wird, ist unbegründet", mahnte der renommierte Wirtschaftswissenschafter Wladislaw Inosemzew: "Auch die Euphorie über den Anschluss der Krim ist noch nicht verflogen. 2018 wird Putin sich wiederwählen lassen, und bis zum Ende seiner neuen Amtszeit 2024 wird es keine grundlegenden Änderungen geben."

In der Gesellschaft gebe es keine Nachfrage nach "großen Veränderungen", so Inosemzew, und keinen Konsens, dass sich das Land in einer Sackgasse befinde, wie dies etwa zu Beginn der Perestroika gewesen sei: "Die Regierung hat eigentlich nichts zu fürchten - außer die eigenen Fehler." Betretene Gesichter bei den Zuhörern.

Aus Wirtschaftsdaten Prognosen für die politische Zukunft abzuleiten sei ein Irrweg, mahnte dagegen der frühere Putin-Berater Andrej Illarionow: Die Geschichte Russlands und anderer Staaten zeige, dass es meistens nicht Wirtschaftskrisen seien, die zu politischen Umwälzungen führten. Größere Bedeutung habe die "Systemkrise" in Russland: Das Eigentumsrecht der Menschen sei durch jüngste Präsidialerlasse Putins praktisch aufgehoben worden, das Land belege in internationalen Ranglisten in Sachen Freiheit und Rechtsstaatlichkeit Plätze hinter Simbabwe und Gabun. Das alles führe zu Unzufriedenheit, die wiederum zu Umbrüchen führen könne.

"Der Westen hat kapituliert"

Der frühere litauische Staatschef Vytautas Landsbergis, eine der entscheidenden Figuren für das Ende der Sowjetunion, beklagte auf dem Forum, dass der Westen sich nicht bewusst mache, dass Putin einen Krieg gegen die westliche Zivilisation führe: "Wir kapitulieren de facto. Hoffnung, dass sich das ändert, habe ich leider nicht, aber ich hoffe zumindest, dass man sich das eingesteht, dass man zumindest darüber redet, was man tun könnte, um Putin zu stoppen."

Das Forum in der litauischen Hauptstadt wurde eng umlagert von Reportern des Kreml-TVs, die teilweise regelrecht Jagd auf die Teilnehmer machten und sie mit versteckter Kamera filmten. Die Moskauer Propagandamedien machten sich über das Treffen und seine Teilnehmer lustig. Statt sich inhaltlich damit auseinanderzusetzen, sprachen sie von einer "Ansammlung von Clowns."

Nach Ansicht Kasparows ist so viel Aufmerksamkeit aus Moskau als Erfolg zu werten. Der Ex-Schachweltmeister verwies auf einen Ausspruch seines Mitstreiters, des 2015 am Kreml ermordeten Oppositionsführers Boris Nemzow: "Boris sagte, da es keinerlei politische Konkurrenz in Russland gibt, ist der einzige Maßstab, an dem die Opposition ihren Erfolg messen kann, die Reaktion des Kreml", meinte Kasparow bitter: "Seine Ermordung zeigt, dass er für maximal erfolgreich gehalten wurde." Bleibt zu hoffen, dass Kasparow für weniger erfolgreich gehalten wird.

Zur Person

Boris

Reitschuster

ist Journalist, Sachbuchautor und hat lange in Russland gelebt. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Putins verdeckter Krieg - wie Moskau den Westen destabilisiert" (Econ Verlag, 2016).