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Alle Menschen werden Opfer

Von Bruno Jaschke

Reflexionen

Die Geschichte und Entwicklung des Opferbegriffs arbeitet Kirstin Breitenfellner in ihrem Buch "Wir Opfer" auf: Von archaischen Sündenbock-Ritualen bis zur heute grassierenden, von Medien kräftigst geförderten Opferlust.


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"Wir sind Opfer der Politiker. Politiker sind Opfer der Medien, Verbrecher sind Opfer ihrer Kindheit, die kleinen Anleger sind Opfer der großen Finanzakteure, die Konsumenten sind Opfer der Werbung, die Arbeitslosen sind Opfer der Arbeitsmarktpolitik und die dafür verantwortlichen Politiker sind Opfer der multinationalen Konzerne. (. . .) Heute wollen immer mehr Menschen Opfer sein. Aber kaum jemand ist mehr bereit, etwas zu opfern. Was ist geschehen?" Das ist hier die Frage. Deren Präfix vielleicht auch so zu formulieren wäre: Immer mehr Menschen gerieren sich als Opfer und immer weniger wollen dafür wirklich leiden oder etwas einsetzen.

Der Sündenbock - eine Art "Ur-Opfer" (William Holman Hunt, 1854).
© Foto: Wikimedia/public domain

Der Bedeutungs- und Verständniswandel des Terminus "Opfer" steht im Fokus von Kirstin Breitenfellners Buch "Wir Opfer". Eines der primären Ziele sei es, wie die Autorin schreibt, "den Opferbegriff zu definieren und zu differenzieren, ihn in der Kultur und Religionsgeschichte zu verankern", und vor diesem semantischen Hintergrund seinen heutigen Gebrauch in der Politik und in den Medien zu hinterfragen.

"Ich habe mich gefragt, woher kommt unsere Besessenheit mit Opfern? Wir leben doch in einer säkularisierten Gesellschaft und Opfer ist eigentlich ein religiöser Begriff", erläuterte Breitenfellner bei der Präsentation des Buchs in Wiens Hauptbücherei im Herbst 2013. Kirstin Breitenfellner, 44, Autorin von Romanen, Kinder- und Sachbüchern, publiziert regelmäßig im "Falter". Sie hat dort in Form einer Titelgeschichte auch den Opferbegriff zur Diskussion gestellt; speziell im Hinblick auf seine "narzisstische Selbstaufladung", die der Analytiker und Philosoph Christian Kohner-Kahler im Gespräch mit ihr konstatiert hat.

Alle gegen einen

Extrem gegensätzliche, jedenfalls nicht durch ein Übermaß an Ausgewogenheit charakterisierte Reaktionen von begeisterter Zustimmung bis zu wütender Ablehnung haben sie zur Einsicht gebracht, dass die Zeitung nicht die geeignete Plattform für eine differenzierte Auseinandersetzung des Themas ist. So tut sie es denn hier auf einer Länge von fast 300 Seiten über acht thematische Schwerpunkte, die, historisch ausholend, die Entwicklung des Opfers vom Beginn unserer Kultur bis zu seiner heutigen, permanent von Medien begleiteten - und beeinflussten - Auslegung nachverfolgen.

Breitenfellner geht dabei vom Sündenbock als einer Art Ur-Opfer aus: die Zusammenrottung aller gegen einen willkürlich ausgewählten Unschuldigen, der dann buchstäblich hingeschlachtet wird. So etwas kommt heute noch vor: Gleich zu Beginn des Buchs schildert Breitenfellner einen beklemmenden Fall in Papua-Neuguinea von Anfang 2013, wo eine 20-jährige Frau von einer aufgebrachten Menge gefoltert und verbrannt worden war, weil sie mit "übernatürlichen Kräften" den Tod eines sechsjährigen Buben verursacht habe. Zwei Frauen, die der Tötung eines kleinen Mädchens beschuldigt worden waren, konnten in letzter Minute von der Polizei gerettet werden. Ermittlungen ergaben, dass dieses Kind von zwei Männern, die dann selbst dem Lynchmob angehörten, vergewaltigt und ermordet worden war.

Der Illusion übrigens, dass "so etwas" nur mehr in "primitiven Gesellschaften" vorkommen könne, hält Breitenfellner nüchtern entgegen, dass auch in hiesigen Breiten die Decke der Zivilisation über einem archaischen emotionalen Bodensatz gelegentlich sehr dünn werden kann: In Emden in Deutschland musste ein 17-jähriger Berufsschüler, der erwiesenermaßen zu Unrecht des Missbrauchs und der Ermordung eines elfjährigen Mädchen beschuldigt worden war, mit verstärktem Polizeischutz vor der Rache eines 50-köpfigen Mobs gerettet werden.

Breitenfellners These des Sündenbocks als Beginn allen Opferwesens beruft sich auf die Kronzeugenschaft des 1923 in Avignon geborenen, seit 1947 in den USA lebenden Literaturwissenschafters, Kulturanthropologen und Religionsphilosophen René Girard. Für Girard diente das Opfer ursprünglich dazu, den Ausbruch von Gewalt in Gesellschaften zu verhindern. Das leiste ein bestimmter, weltweit in Ursprungs-Mythen nachvollziehbarer Vorgang, den er als "Sündenbockmechanismus" bezeichnet.

Menschliche Gemeinschaften hätten mangels natürlicher Hierarchien und wesensimmanent unstillbarer Begehrlichkeit nach der Habe des Nächsten eine permanente Tendenz zu Rivalitäten, die eskalieren können. Ist dies der Fall, wendet sich irgendwann ohne Plan und gezielten Vorsatz die kulminierte Aggression gegen einen Einzelnen. Dieser wird im gemeinsamen Furor getötet, wobei bedeutsam ist, dass die Tötungsart eine ist, die nicht oder nur schwer individuell dingfest zu machen ist: Steinigung etwa oder Hinunterstoßen über eine Klippe.

Dieser kollektive Mord an einem Unschuldigen stellt die Einigkeit in der Gesellschaft wieder her. Und eben deswegen, da es die Gemeinschaft befriedet hat, wird das Opfer im Nachhinein vergöttlicht: Die Grausamkeit, der es ausgesetzt war, verwandelt sich in Verehrung. Der Mord am Beginn aller Ursprungs-Mythen wird in weiterer Folge durch stellvertretende Opfer in Form von Riten ersetzt: Zunächst durch Menschenopfer, später durch Tieropfer, schließlich nach innen gerichtet durch Gebet oder Buße.

Das stellvertretende, rituelle Opfer ist für Girard die Geburt nicht allein der Religion - deren Funktion in der Kanalisierung der zwischenmenschlichen Gewalt und nicht in der Welterklärung liege -, sondern auch der Kultur und der Institutionen; insbesondere des Gerichtswesens, das durch sein Gewaltmonopol mehr als die private Vergeltung in der Lage ist, Gewalt zu verhindern.

Der Holocaustneid

Von Girards buchstäblich archaischer Opfer-Definition bis zur heutigen öffentlichen Opfer-Lust in den Medien ist es freilich ein sehr langer Weg. Wichtige Stationen darauf sind die Entstehung der Weltreligionen, Kriege, insbesondere aber der Holocaust. Dieser habe, so Breitenfellner, die Geschichte des Opferbegriffs irreversibel verändert.

"Kann man jemanden darum beneiden, was ihm angetan wurde? Es klingt pervers, aber man kann." Unter Berufung auf den US-Historiker Peter Novick führt sie aus, "wie die andauernde Inbesitznahme der Hauptbühne für ihre Tragödie und der Erfolg, sie zum Maßstab zu machen, mit dem andere Grausamkeiten gemessen wurden, ein beträchtliches Ausmaß an Ressentiments gegen die Juden, den Holocaustneid schuf. Etwa bei der afroamerikanischen Community, wo das Gefühl weit verbreitet war, die Juden würden sie ständig übertrumpfen und hätten ihnen den rechtmäßigen Platz als Amerikas Opfergemeinde Nummer eins gestohlen." Demzufolge hätte der Holocaust eine Art Opferwettstreit ausgelöst, den verschiedene Interessensgruppen (auf äußert fragwürdige Weise) für sich zu entscheiden versuchen - manifestiert in Aussprüchen wie etwa "Wir sind die Juden von heute".

Und das ist denn auch, als was sich der Opferdiskurs gegenwärtig darstellt: als eine Art Qualifying um die "pole position im wohlfahrsstaatlichen Verdrängungswettbewerb". Verschiedene Strömungen in der gesellschaftlichen Großwetterlage unterstützten diese Tendenz: Etwa die Möglichkeiten, sich durch den Status als Opfer zu profilieren oder zu bereichern oder auch sich jeglicher Eigenverantwortung zu entledigen. Eine nicht unwesentliche Rahmenbedingung ist für Breitenfellner eine deutliche Gewichtsverlagerung vom Täterrecht zum Opferschutz im hiesigen Justizwesen. Es ist heute gesellschaftlich anerkannt, dass Opfern geholfen wird. Das Strafrecht ist aber noch immer am Täter orientiert, dessen Resozialisation es will. Wie kann man den Ansprüchen von Opfern gerecht werden, ohne erreichte Standards an Humanität und Liberalität aufzugeben? Schon sieht Breitenfellner diesbezüglich bedenkliche Tendenzen, konstatiert "eine neue Einfachheit", die Täter und Opfer wieder feinsäuberlich auseinanderdividiert. Und die Täter dabei ohne Mitleid an den Pranger stellt - unter tatkräftiger Mithilfe der Medien."

An diesem Punkt endlich kommt ein dritter Akteur in dem Beziehungsgeflecht ins Spiel, das der amerikanische Psychiater Stephen Karpman "Dramadreieck" nannte: der Retter. Diese Spezies habe, schreibt Breitenfellner, die Neigung, "den Opfern (. . .) die Autonomie und Eigenverantwortung" abzusprechen, "um sie in einer abhängigen, passiven Lage zu halten. Mit ihnen von anderen zugesprochenen Rechten, aber ohne Stimme."

Die Macht des Retters

"Retter" können die Medien sein sowie Anwälte und/oder Berater von Menschen, denen Schlimmes widerfahren ist. Im Fall von Natascha Kampusch trafen beide unheilvoll zusammen und potenzierten sich mit einem Opfer, das sich nach dem Empfinden größerer Teile der Öffentlichkeit nicht rollengemäß verhielt, zu einer ungustiösen Melange aus abgründiger Spekulation und offener Denunziation.

"Ich finde, dass die Geschichte von Kampusch viel darüber erzählt, wie wir Journalisten - manche vielleicht in durchaus gutem Glauben - uns völlig verrennen können", meinte "Falter"-Chefredakteur Florian Klenk bei der Präsentation von "Wir Opfer".

"Kampusch wollte in die Medien, und damals sagte ein PR-Berater, der Herr Ecker, wir müssen die Schutzhand über das Opfer halten und das können wir nur, indem das Opfer mit den Medien einen Deal macht und die Medien dem Opfer bezahlen, damit es die Geschichte erzählt. Und damit meinte man, die Sache steuern zu können. Das Gegenteil ist eingetreten. Die Journalisten, die das Interview nicht gekriegt haben, meinten, das Opfer erfindet eine Geschichte. Es verkauft seine Story. Das ist ja zum Teil auch von höchsten Autoritäten gekommen. Kampusch ist vom ehemaligen Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs und vom ehemaligen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs beschuldigt worden, sie erfinde diese Geschichte. Ich habe mich gefragt, warum tun die das? Weil man möglicherweise Natascha Kampusch vom Opfer zur Täterin machen wollte - zur Täterin einer Verleumdung."

"Ich glaube", konstatiert Kerstin Breitenfellner, "was die Leute an Natascha Kampusch am meisten geärgert hat, war, dass sie ein Opfer mit Stimme war."

Bruno Jaschke, geboren 1958, lebt als freier Journalist und Autor in Wien und ist ständiger Mitarbeiter der "extra"-"music"-Seite. Zuletzt ist von ihm der Erzählungsband "Katastrophen" (Arovell, 2010) erschienen.

Kirstin Breitenfellner: Wir Opfer. Warum der Sündenbock unsere Kultur bestimmt. Diederichs Verlag München 2013, 286 Seiten, 16,99 Euro.