Ein Nahost-Experte warnt nach den Kölner Übergriffen vor Hysterie.
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"Wiener Zeitung": Die sexuellen Übergriffe in Köln wurden von deutschen Politikern als völlig neue Dimension der Kriminalität bezeichnet. War die ganze Sache ihrer Ansicht nach organisiert?
Von der Osten-Sacken: Das erinnert extrem an Ägypten, wo diese Form der sexualisierten Gewalt vom Staat eingesetzt worden ist. Wo Anhänger von Mubarak gemeinsam mit der Polizei ganz gezielt Demonstrantinnen sexuell missbraucht haben. Die systematische Entehrung von Frauen ist eine Waffe, die von allen Regimes im Nahen Osten gezielt eingesetzt wird: Vergewaltigungen in Gefängnissen. Übergriffe von Seiten der Polizei auf Leute, die in der Opposition sind. Das gilt für pan-arabische Regime wie Mubarak, Saddam Hussein und Assad wie für islamistische Regime.
Vergewaltigung als Kriegswaffe kennen wir auch in Europa: etwa aus Bosnien im Jugoslawien-Krieg.
Im Iran beispielsweise werden Jungfrauen in der Nacht, bevor sie exekutiert werden, vergewaltigt, damit sie nicht in den Himmel kommen. Auch im Irak wurden Frauen, wenn sie ins Gefängnis kamen, vergewaltigt. Es gab innerhalb des Geheimdienstes Leute, die als Vergewaltiger angestellt waren. Deren Beruf war Vergewaltiger. Das ist der Kontext. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo haben salafistische Prediger zur Vergewaltigung von Frauen aufgerufen: Wer auf dem Tahrir demonstriert, ruft nach Vergewaltigung, hieß es. In Köln ist also die Reaktion auf den Arabischen Frühling angekommen.
Sexualisierte Gewalt in der Öffentlichkeit ist also eine politische Waffe. Warum sollten Migranten und Flüchtlinge diese in Köln einsetzen? Führen die Krieg gegen die deutsche Gesellschaft?
Mir scheint es aus meiner Erfahrung sehr unwahrscheinlich, dass das etwas Spontanes war. Ein Flüchtling, der jetzt aus Syrien nach Deutschland kommt, versucht, sich irgendwie zu organisieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dessen größtes Problem ist, sich in Köln auf den Hauptbahnhof zu stellen.
Es waren aber doch angeblich Flüchtlinge dabei?
Ja. Dann gibt es diese Antänzer, die Leute anrempeln und bestehlen. Das war auch nicht der Fall, die haben kein Interesse daran, die Situation eskalieren zu lassen, die müssen ganz vorsichtig sein. Die tun alles, um nur nicht aufzufallen.
Aber - wer war es dann? Haben Sie eine Theorie?
Ich habe keine Theorie. Ich sage nicht, dass es ein Anschlag war, aber der Effekt ist derselbe. Vorher ist nie etwas passiert und dann plötzlich passiert es in sieben Städten am gleichen Tag. Das sind Fragen, die man sich stellen muss. Justizminister Heiko Maas, einer der ganz wenigen, die einen vergleichsweise kühlen Kopf bewahrt haben, hat ja angedeutet, dass es sich da um etwas Organisiertes handeln kann. Man muss schauen, was da passiert ist: Wie schnell es möglich ist, in Deutschland eine hysterische Massenbewegung zu erzeugen, deren Folgen fatal sind. Jetzt wird der Ruf nach Verschärfung der Gesetze, nach Ausweisung laut, jeder Flüchtling steht unter Generalverdacht.
Die Flüchtlingsproblematik wird in Österreich und Deutschland extrem polarisiert geführt. Da werden Ressentiments geschürt und dann gibt es die, die weit die Türen öffnen - auch Kanzlerin Angela Merkel. Waren die "Guten" zu blauäugig? Da kommen brutalisierte, traumatisierte Menschen zu uns, hat etwa der ORF-Korrespondent Friedrich Orter vor Wochen gewarnt.
Die Deutschen haben ein kollektives Problem: Es gibt keine Mitte. Wir tendieren immer zu den Extremen.
Die Österreicher vielleicht auch.
Ja, vielleicht. Entweder schwarz oder weiß. Es fehlt die Mitte, ein Common Sense, der in der Lage ist, Widersprüche wahrzunehmen. Das geht den öffentlichen Diskussionen in Deutschland völlig ab. Vor allem, wenn es um die existenziellen Fragen Sexualität, Krieg und Frieden geht. Dann wird die Debatte in Deutschland immer unglaublich hysterisch, gesinnungsethisch. Die Auseinandersetzung mit Fakten und Widersprüchen ist nicht sehr ausgeprägt. Braune Männer vergreifen sich sexuell an deutschen Frauen: Da addieren sich hunderte Jahre an Projektion, diese antisemitische Stürmer-Ästhetik, die Vorstellung des schwarzen Mannes und der weißen Frau. Alle sind da sofort ins offene Messer gerannt. Der Schaden, der in den letzten vier Tagen angerichtet wurde, ist immens. Das ist nicht die Grundlage für eine vernünftige Auseinandersetzung. Natürlich ist es irre, dass Leute traditionell aus den Reihen der Linken Flüchtlinge als gute Menschen ansehen. Flüchtlinge sind keine guten Menschen, sondern Menschen, die fliehen. Und sie haben ein Recht, dass ihr Asylantrag geprüft wird. Nun hat Europa viel dazu beigetragen, dass die Lage in Syrien so eskaliert ist, dass Teile der 14 Millionen Flüchtlinge, die in der Gegend herumirren, auch den Weg nach Europa finden.
Merkel hat sie ja eingeladen.
Die Türkei und Griechenland haben die Grenze aufgemacht, weil sie überfordert waren. Eine Menge syrischer Flüchtlinge war in Budapest vor dem Bahnhof. Diese syrischen Flüchtlinge haben Arabischen Frühling gespielt. Sie haben sich organisiert und gesagt: Wir gehen zu Fuß nach Österreich. Die Leute haben das gemacht, was sie in Aleppo und Homs gelernt haben: Sie haben sich organisiert. Dieser "March of Hope" hat das Grenzsystem zerstört. Es war der Arabische Frühling, der die europäische Fluchtabwehr final zerstört hat. Angela Merkel hatte die Wahl: Entweder man lässt sie herein oder man schießt sie an der Grenze alle ab. Und sie hat aus der Not heraus die richtige Entscheidung getroffen.
Vor meinen geistigen Auge entstehen Flüchtlingstrecks, die überall zurückgewiesen werden, eine verwahrloste, ausgehungerte Masse.
Das ist in Griechenland schon Realität. Nur noch Afghanen, Iraker und Syrer werden nach Mazedonien durchgelassen. Iraner, Pakistani, Jemeniten bleiben in Griechenland mittellos hängen.
Was will Assad?
In Syrien tobt aus ethnischer Sicht ein Krieg der Minderheit gegen die Mehrheit. Wenn Assad an der Macht bleiben will, muss er die demografische Zusammensetzung ändern. Was im Moment stattfindet, ist eine systematische Vertreibung der sunnitischen Bevölkerung. Jetzt ist der Syrien-Konflikt hier bei uns, wie in Köln der Fall. Langsam bemerkt man in Deutschland, dass der Nahe Osten zwei Flugstunden entfernt ist. Wenn man dort nicht interveniert, kommt das Gift, das sich dort entwickelt hat, hierher.
Wo ist die Hoffnung?
Solange die Ursache im Nahen Osten nicht behoben ist, die immer vielfältiger und brutaler wird, gibt es keine Lösung. Wäre 2012 die Flugverbotszone in Syrien durchgesetzt worden, dann wären die Flüchtlinge jetzt nicht hier.
Was halten Sie von Vorschlägen, die Migranten abzuschieben?
Das geht nicht. Sie sind da und es werden mehr. Man kann sich nicht vor den Flüchtlingsmassen, die man produziert hat, abschotten. Griechenland hat insgesamt 3700 Kilometer Grenze. Der Effekt dieser Politik ist nur, dass Europa autoritärer und ekliger wird. Wenn man die Flüchtlinge und nicht die Fluchtgründe bekämpft, führt das zur Orbánisierung Europas.
Thomas von der Osten-Sacken
ist Nahost-Experte, Journalist, Publizist und Direktor der im Irak tätigen Hilfsorganisation Wadi mit Sitz in Frankfurt.