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"Alle suchen Arbeit"

Von Veronika Eschbacher aus Tiflis

Politik

Georgien glänzte lange Zeit mit einem beeindruckenden Wirtschaftswachstum. Doch die Boom-Jahre sind vorerst vorbei.


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Tiflis. Samuel und Levan sind zwei heitere Zeitgenossen. Sogar kurz vor Mitternacht stehen die beiden Georgier, beide über 60, noch im Zentrum ihrer Geburtsstadt Tiflis und treiben Schabernack am hell beleuchteten Platz der Freiheit. Sie verstecken einem Freund ein paar Habseligkeiten, die dieser kurz am Fuß der mitten am Platz in die Höhe ragende St.-Georgs-Säule abgestellt hat. Oder witzeln über den schlaffen Hemdkragen eines anderen, während trotz der späten Uhrzeit ohne Unterlass Autos an ihnen vorbeidonnern. Viele der Autos sind Taxis, und nicht wenige halten, um sich zu erkundigen, ob Samuel und Levan denn nicht irgendwohin müssten. "Alle suchen Arbeit", sagt Levan, zieht die Schultern hoch und wird plötzlich ernst. "Sprich mit wem du willst hier, die einzige Sorge momentan gilt der Wirtschaft."

Dabei gestaltete sich die Wirtschaftsentwicklung Georgiens seit der "Rosenrevolution" im Jahr 2004 mit zum Teil zweistelligen Wachstumsraten sehr dynamisch. Auch nach einem wirtschaftlichen Einbruch infolge des Kriegs zwischen Georgien und Russland im Jahr 2008 und der globalen Finanzkrise konnten in den Jahren bis 2012 wieder BIP-Zuwächse von 6 bis 7 Prozent verzeichnet werden. Trotz der beachtlichen Entwicklung leiden aber nach wie vor große Teile der Bevölkerung, vor allem in den ländlichen Gegenden, unter Armut und Arbeitslosigkeit. Offiziell liegt die Arbeitslosenquote bei 15 Prozent, inoffizielle Schätzungen gehen von 30 bis 50 Prozent aus.

Wenig verwunderlich ist also das Ergebnis einer im April durchgeführten Studie: Demnach ist für zwei Drittel der Georgier der Arbeitsplatz das wichtigste Thema, gefolgt von Inflation und steigenden Lebenshaltungskosten (43 Prozent) und dem Thema Armut (39 Prozent). Damit fiel auch die Angst um die territoriale Integrität des Landes - die beiden Regionen Südossetien und Abchasien haben sich von Tiflis losgesagt - erstmals aus den Top-3-Sorgen der Georgier. Das ist nicht unbeachtlich angesichts der Tatsache, dass Russland erst im März einen weiteren Bündnisvertrag mit Südossetien unterzeichnet hat, der auch den Aufbau einer gemeinsamen Armee beinhaltet. Schon jetzt hat Moskau in den beiden Regionen 6000 bis 10.000 Soldaten stationiert. Und die Angst vor einem neuen bewaffneten Konflikt mit Russland war seit der Krim-Annexion allgegenwärtig.

Investitionen dringend gesucht

Die 2012 ins Amt gewählte Regierung ist mit der Ambition angetreten, dass künftig größere Teile der Bevölkerung vom Wachstum profitieren sollen. Doch die Wirtschaft mag, trotz Reformansätzen vor allem im Justizbereich und in der Landwirtschaft, nicht so recht auf die Beine kommen. Sie weist weiterhin erhebliche strukturelle Defizite auf, die Industrie ist schwach entwickelt, es gibt keine dominanten Sektoren wie Rohstoffe oder Dienstleistungen, wenn auch der Tourismus an Bedeutung gewinnt. Nun kommt im Schatten der russischen Wirtschaftskrise eine Schwächung der Landeswährung hinzu. Der Lari hat in den vergangenen vier Monaten gegenüber dem Dollar um 30 Prozent abgewertet. Die Entwicklungsbank EBRD kürzte ihre BIP-Prognose für 2015 vergangene Woche auf 2,3 Prozent, nachdem sie bisher mit 4,2 Prozent gerechnet hatte. In den ersten beiden Monaten des Jahres sanken die Exporte um 26,4 Prozent.

Gleichzeitig senden die georgischen Gastarbeiter in Russland weniger Geld an ihre Familien. Auch die drei Neffen von Levan, die im südrussischen Rostow-am-Don leben, hadern mit den schwieriger werdenden Bedingungen. Levans Sohn verdingt sich mangels Möglichkeiten in der Heimat seit zwei Jahren in der Ukraine, "aber jetzt muss ich ihm Geld schicken, statt er mir", sagt der Georgier. Es sei wohl nur mehr eine Frage der Zeit, bis die jungen Männer nach Tiflis heimkehren, mutmaßt Levan. "Aber dann? Wir haben keine Fabriken, wir brauchen Investitionen!", sagt der 62-jährige in fast staatsmännischem Ton.

Georgien hat in den vergangenen Jahren viel unternommen, um Investitionen anzuziehen. Weitgehende Deregulierung und eine umfassende Privatisierung von Staatseigentum, harte Korruptionsbekämpfung und Reformen im Steuer-, Zoll- oder Arbeitsrecht brachten dem Land Spitzenplätze bei internationalen Ratings ein. "Georgien ist erfrischend anders", sagt Norbert Schwarz, Vizepräsident von Andritz Hydro und dieser Tage Teil einer österreichischen Wirtschaftsdelegation, die Bundespräsident Heinz Fischer bei seinem Staatsbesuch begleitet. Die Reformen der vergangenen Jahre würden sich in allen Bereichen bemerkbar machen, die Ministerien seien heute mit jungen, offenen Menschen besetzt. Korruption und Zollabwicklung hätten ihm noch keine einzige schlaflose Nacht bereitet, meint Schwarz, der hier schon zwei Projekte abgeschlossen hat.

Aber während die gesamtwirtschaftliche Entwicklung schon 2011 das Vorkrisenniveau wieder überschritten hatte, hinken die ausländischen Direktinvestitionen bis heute spürbar hinterher. Auch die Investitionen aus Österreich sind rückläufig, ebenso wie der bilaterale Handel, der sich mit knapp 60 Millionen Euro im Jahr auf sehr niedrigem Niveau befindet. Immerhin - der Vizepräsident der österreichischen Wirtschaftskammer, Richard Schenz, erwartet, dass Investitionen, die ursprünglich für die Ukraine oder Russland gedacht waren, künftig in Georgien landen werden.

Wie schnell dies Levan und Samuel zugutekommt, bleibt abzuwarten. Die Regierung kommt wegen der Wirtschaftsmisere zunehmend unter Beschuss, zudem ist die Anzahl der Georgier, die einen Beitritt zur von Russland dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion unterstützen laut einer Umfrage auf 31 Prozent gestiegen - das ist doppelt so viel wie noch vor zwölf Monaten. Levan und Samuel sind diese Diskussionen einerlei. Sie sind wie der Großteil der Georgier überzeugte Europäer. "Wir wollen einfach nur Arbeitsplätze, welcher Minister diese heranschafft, ist uns egal."