Fast jeden zweiten Flüchtling zieht es nach positivem Asylbescheid in die Hauptstadt. Das fordert die Stadt in vielerlei Hinsicht.
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Wien. Es ist schon eine Besonderheit für ein so kleines Land wie Österreich, dass in der Hauptstadt mehr als ein Fünftel der gesamten Bevölkerung lebt. Diese relative Übergröße, die der Hauptstadt den unhübschen Beinamen Wasserkopf eingetragen hat, stellt Wien auch beim aktuellen Flüchtlingsthema vor spezielle Schwierigkeiten. Fast jeden zweiten Asylberechtigten zieht es nach einem positiven Bescheid nach Wien. Und das verstärkt die ohnehin schon großen Herausforderungen für die Hauptstadt, die sich mit einer zunehmend dynamischeren Bevölkerungsentwicklung konfrontiert sieht. Die Neuankömmlige, egal ob sie aus Syrien, Debrecen oder dem Waldviertel kommen, brauchen Arbeit und Wohnraum. Bei der Mindestsicherung trägt Wien bereits jetzt rund 60 Prozent der gesamten Ausgaben in ganz Österreich.
Sollte das Land Oberösterreich sein Vorhaben in die Tat umsetzen (können), die Mindestsicherung für Asylberechtigte zu kürzen, wäre das ein weiterer Push-Faktor in Richtung Wien. Wie die "Wiener Zeitung" berichtete, steht die von der schwarz-blauen Landesregierung geplante Regelung zwar auf juristisch tönenen Beinen, Wien ist dennoch alarmiert. In der kommenden Woche soll zumindest rechtlich durch ein Gutachten geklärt werden, ob der Plan überhaupt umsetzbar ist.
Als die Mindestsicherung 2010 beschlossen wurde, war dies zwar ein erster Schritt, die Sozialhilfe, die Landessache ist, zu vereinheitlichen, wirklich konsequent wurde er aber nicht getan, wie sich nun bei den Flüchtlingen zeigt. Die Idee, die Mindestsicherung zur Bundessache zu machen, kam vor einigen Wochen zwar kurz auf, ist aber schon wieder vom Tisch. Im Sozialministerium bestätigt man jedoch, dass die Frage einer Vereinheitlichung in laufenden Verhandlungen mit den Ländern eine Rolle spielt. Damit soll verhindert werden, dass die Bundesländer einander durch wie immer ausgestaltete Maßnahmen einen Wettbewerb der Unfreundlichkeiten liefern, damit möglichst wenige anerkannte Flüchtlinge bei ihnen bleiben.
Wegweisendes Urteil
Doch selbst wenn Asylberechtigte überall die gleichen Hilfsleistungen erhalten sollten, wird Wien einen starken Magnetismus ausüben. Nirgendwo sind mehr Menschen, hier gibt es wohl auch den größten informellen Arbeitsmarkt sowie durch die Größe der Stadt besser funktionierende Netzwerke über Verwandte und Bekannte.
Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) Anfang März, das sich mit einem deutschen Fall beschäftigte, lässt nun auch eine andere Idee im Sozialministeirum reifen, nämlich die einer Wohnsitzauflage. Diese besteht bei Flüchtlingen derzeit nur in den ersten Wochen, wenn geprüft wird, ob sie überhaupt zum Asylverfahren zugelassen werden. Dann sind sie zwar grundsätzlich in ihrer Bewegungsfreiheit uneingeschränkt, allerdings erhalten sie nur in dem Bundesland Grundversorgung, in das sie zugewiesen werden. Es ist also eine faktische, wenn auch zeitlich begrenzte Residenzpflicht. Wenn das Asylverfahren abgeschlossen und positiv beschieden ist, können Flüchtlinge ihren Wohnsitz frei wählen - und tun dies auch.
Kompetenzen berücksichtigen
Das Urteil des EuGH, auch wenn es sich konkret auf subsidiär Schutzberechtigte bezieht, gibt einer Wohnsitzauflage gewisse rechtliche Chancen. Das Gericht befindet es dann für zulässig, eine solche Auflage zu erteilen, wenn mit größeren Integrationsschwierigkeiten zu rechnen ist, als sie andere Drittstaat-Bürger vorweisen. Umgelegt auf Österreich würde das bedeuten: Wenn angenommen wird, dass sich Syrer, die ihr Verfahren in Kärnten hatten, in Wien schlechter integrieren können als Türken oder Serben, könnten sie dazu verpflichtet werden, weiterhin in Kärnten zu verbleiben.
Johannes Kopf, Vorstand des AMS, verweist im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" darauf, dass noch etliche rechtliche Fragen offen seien. Außerdem ergeben sich aus arbeitsmarktpolitischer Sicht Probleme: Ein syrischer Koch hat in Salzburg bessere Chancen auf einen Job als in Wien, ein Metallarbeiter in der Steiermark bessere Chancen als in Tirol. Man müsste daher, sagt Kopf, schon bei der Verteilung der Asylwerber auf die Bundesländer ihre Fähigkeiten berücksichtigen und mit dem regionalen Arbeitsmarktbedarf abgleichen. "Aber", schränkt Kopf ein, "dann könnten viele Kontakte und Familien zerreißen." Dies wiederum ist problematisch für die Integration.
Eine Wohnsitzauflage steht auch einer sehr fundamentalen Errungenschaft der Europäischen Union entgegen: der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Ihr Sinn ist, dass es mit einem vereinten Arbeitsmarkt eine bessere Allokation von Arbeit gibt. Deshalb servieren Ostdeutsche in Tirol und pflegen Slowaken in burgenländischen Krankenhäusern. Eine Residenzpflicht würde zwar nicht verhindern, dass ein Flüchtling in einem anderen Bundesland eine Stelle antritt, es erschwert jedoch die Jobsuche, wenn er nur an seinem Wohnsitz Sozialleistungen beziehen darf.
Arbeit für Asylwerber?
Dass Problem mit Wiens Arbeitsmarkt ist, dass er trotz der landesweit höchsten Arbeitslosenquote die größte Anziehungskraft hat. Was Wien dank seiner Größe in jedem Fall erzeugt, ist Hoffnung. Ziehen Flüchtlinge, die ein, zwei Jahre keinen Job finden, nicht ohnehin weg? Kopf ist skeptisch: "Es gibt dann schon so etwas wie eine Verfestigung, und zwar in der Region wie auch in der Situation", sagt der AMS-Chef. Es entstehen Kontakte, die Kinder gehen in Schulen und finden Freunde. Und wer längere Zeit aus dem Arbeitsalltag draußen ist, findet sich auch nicht mehr so leicht wieder ein, auch Antriebslosigkeit und Depression spielen bei Langzeitarbeitslosen eine Rolle.
Um eine bessere Verteilung der Flüchtlinge in ganz Österreich zu erreichen, könnte auch ein seit Jahren in der Schublade verstautes Papier der Sozialpartnerschaft wieder hervorgeholt werden, nämlich eine Zulassung von Asylwerbern zum Arbeitsmarkt nach sechs Monaten. Dies unter der Prämisse, dass die Stelle nicht durch eine inländische Arbeitskraft besetzt werden kann. Dadurch könnte man zumindest bei einem Teil der Flüchtlinge schon eine Verfestigung und Integration durch Arbeit erreichen, wenn sie noch im Verfahren und daher an ein Bundesland gebunden sind. Davon würde wohl vor allem der Tourismus profitieren - wohl vor allem jener abseits von Wien.