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Allerheiligster Familienklatsch

Von Hans Förster

Wissen

War Jesus verheiratet? Hatte er Geschwister? Die Lebensumstände des Heilands haben die Phantasie von Schriftstellern und Schriftfälschern schon immer beschäftigt.


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Weihnachten gilt als das Fest der "Heiligen Familie" - Maria, Josef und das Jesuskind. Mögliche familiäre Beziehungen rund um Jesus sind sowohl heute wie bereits in der Antike ein Thema, das faszinieren, aufrühren und zu Verboten führen kann. Ein bisher unbekannter Papyrus wurde im September dieses Jahres vorgestellt, der von einer angeblichen Ehefrau Jesu berichtet. Erinnerungen werden wach an Dan Browns Bestseller "Sakrileg".

Ikone von Jakobus, dem "Halbbruder" Christi.
© Bild:Wikipedia

Die Reaktionen auf das neu vorgestellte Papyrusfragment waren geteilt. Es gab einige wenige zustimmende Äußerungen. Sehr rasch kam der Verdacht auf, dass es sich bei dem Objekt um eine moderne Fälschung handeln dürfte. Viele Indizien sprechen dafür. Umgekehrt ist es heute natürlich für viele eine höchst interessante und ansprechende Vorstellung, dass Jesus eine Frau gehabt haben könnte.

Für den Historiker besteht das Problem, dass keine Quelle ausdrücklich davon berichtet, dass Jesus verheiratet gewesen wäre. In diesem Zusammenhang wird häufig auch darauf hingewiesen, dass Jesu Jünger und Jüngerinnen ihn mit "Rabbi" anreden (vgl. etwa Johannes 1,38) - und ein derartiger jüdischer "Meister" war in der Regel verheiratet. Was wäre da schöner, als tatsächlich einen Text zu finden, der die Frage endgültig zu klären vermag? Schade, dass zahlreiche Verdachtsmomente und Indizien mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Fälschung hindeuten.

Täuschungsabsichten

Was bleibt? Beziehungen rund um Jesus regen auf. Im Zweifel wird dafür auch einmal mit dem Mittel der literarischen Fälschung, der Täuschung des Lesers, gearbeitet - umgekehrt kann natürlich auch der Täuschungsvorwurf dazu führen, dass missliebige Dokumente mit Skepsis betrachtet und unterdrückt werden. Das war bereits in den ersten Jahrhunderten des Christentums der Fall. Die Fälschung von Dokumenten - oder auch ihre Verfälschung - ist kein modernes Phänomen. Bereits antike Rechtsurkunden tragen häufig den Vermerk, dass keine der Vertragsparteien etwas dem Vertrag hinzugefügt hat, von dem die jeweils andere Partei nichts weiß. Auch ganze Dokumente oder Texte konnten mit bewusster Täuschungsabsicht verfasst werden.

Bei den familiären Beziehungen Jesu betrifft das in der Antike nicht seine Beziehung zu einer Frau, sondern eher seine Verwandten im Sinne der Herkunftsfamilie und das genaue Verwandtschaftsverhältnis zu diesen. Mit diesen Fragen kommt man mitten in den weihnachtlichen Themenkreis.

Grundsätzlich berichten die biblischen Evangelien davon, dass Jesus Brüder und Schwestern hatte (vgl. Markus 3,31-35). Der sich später entwickelnde Glaube an eine immerwährende Jungfräulichkeit der Maria steht im Gegensatz zum Wortlaut des biblischen Textes. Denn es stellt sich unwillkürlich die Frage, woher denn in diesem Fall die biblischen "Geschwister" kommen. Eine mögliche Lösung: Es handelt sich bei den Geschwistern Jesu um Kinder des Josef aus erster Ehe, also um Halbgeschwister. In diesem Fall wäre Josef bereits Witwer gewesen, als er Maria zur Frau nahm. Für einen antiken Verfasser, der unter einem Pseudonym veröffentlichen möchte, eine recht praktische Annahme. Die Brüder Jesu werden unter anderem im Matthäusevangelium namentlich genannt (13,55): "Ist er nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria, und seine Brüder Jakobus und Josef und Simon und Judas?" Die Schwestern Jesu bleiben übrigens in den biblischen Schriften namenlos - ein Schicksal, das sie mit vielen Frauen der Antike teilen.

Unter dem Namen des Jakobus wird dann - wohl um die Mitte des zweiten Jahrhunderts - eine Schrift verfasst, die sehr geschickt die Vorteile der Annahme nützt, dass es sich bei den Brüdern Jesu um Kinder aus einer ersten Ehe des Zimmermanns Josef gehandelt hätte: Diese Halbbrüder - oder im konkreten Fall der eine Halbbruder namens Jakobus - eignet sich dann in geradezu hervorragender Weise als Augenzeuge der Ereignisse, von denen die biblischen Berichte nur kurz erzählen, also all das, was sich rund um die Geburt Jesu und auch davor zugetragen hat.

Ziel des Textes ist also, einerseits die Neugierde der Zeitgenossen zu befriedigen und andererseits für eine Reihe von Fragen die Lösungen anzubieten. Hierzu gehört auch die Frage, wie denn die "Geschwister Jesu" zu verstehen sind. Und eine ganze Reihe von Vorstellungen und Informationen, die in diesem sogenannten "Protevangelium" des Jakobus zu finden sind, haben unsere Vorstellungen von Weihnachten beeinflusst. Wenn man landläufige Krippendarstellungen oder ostkirchliche Ikonen betrachtet, so finden sich zahlreiche Krippen, die eine Geburt Jesu in einer Höhle darstellen. Das Matthäusevangelium erwähnt ein Haus in Bethlehem als Geburtsort Jesu (Matthäus 2,11), und im Lukasevangelium wird davon berichtet, dass Josef und Maria aufgrund einer Volkszählung nach Bethlehem gereist waren. "Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge." (Lukas 2,7) Der hier verwendete griechische Begriff, der mit "Herberge" übertragen wird, ist höchst unspezifisch. Es handelt sich um "Räumlichkeiten", die in irgendeiner Form für den Aufenthalt von Menschen geeignet sind. Das Protevangelium des Jakobus berichtet nun ausdrücklich davon, dass die Geburt Jesu "in einer Höhle" stattgefunden habe. Der Ort, der in den biblischen Berichten noch unbestimmt war, wird genauer bestimmt.

Menschliche Neugier

Und damit ist eine wichtige Funktion dieser Texte beschrieben: Die menschliche Neugier soll befriedigt werden, missverständliche Passagen sollen geklärt werden. Das Matthäusevangelium berichtet davon, dass die Weisen aus dem Morgenland gekommen wären. Dass es sich um "drei Könige" gehandelt habe, entspricht zwar den bildlichen Darstellungen und dem Fest der "Heiligen Dreikönige" am 6. Jänner, im biblischen Bericht ist jedoch nur die Anzahl der Gaben - Gold, Weihrauch und Myrrhe - erwähnt, aus denen nachträglich die Zahl der Geber abgeleitet wurde. Die Tatsache, dass diese sich zuerst bei Herodes erkundigen, wo denn "der neugeborene König der Juden" zu finden sei (Matthäus 2,2), führt zum Kindermord in Bethlehem: König Herodes will einen potentiellen Konkurrenten aus dem Weg räumen, und da er nicht weiß, um welches Kind es sich handelt, wird präventiv zugeschlagen.

Allerdings berichtet das Lukasevangelium auch von der Geburt Johannes’ des Täufers, der nur ein halbes Jahr älter als Jesus war - und da konnte die Frage aufkommen, wie dieses Kind denn überhaupt den im Matthäusevangelium überlieferten Kindermord überlebt haben könnte. Dass diese Frage gestellt wurde, zeigt die Lösung, die das Protevangelium des Jakobus anbietet: Ein Wunder habe dazu geführt, dass Elisabeth und ihr Sohn Johannes, die vor den Schergen des Herodes fliehen, nicht gefunden wurden.

Im zweiten Jahrhundert konnte ohne Schwierigkeiten die Auffassung vertreten werden, dass Jesus Halbgeschwister hatte, sodass ein vermeintlicher Halbbruder Jesu als Augenzeuge Fragen beantworten kann, die sich damals Christen bei der Lektüre biblischer Texte stellten. Doch, falls Josef keine Kinder aus erster Ehe gehabt haben sollte, dann führt diese Annahme zu gröberen Problemen. Und die Auffassung, dass Josef ein jungfräulicher Bräutigam der Maria gewesen sei, verbreitet sich etwa ab der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts in der lateinischen Reichshälfte. Zahlreiche westliche Darstellungen des Josef zeigen ihn mit einer weißen Lilie - dem Zeichen der Jungfräulichkeit - in der Hand. Kinder aus erster Ehe sind da natürlich nicht mehr möglich.

Die Lösung des Westens: Bei den Geschwistern Jesu habe es sich um Cousinen und Vettern gehandelt. Das ist beim antiken Sprachgebrauch durchaus möglich - selbst Geschäftspartner konnten als "Brüder" angeredet werden - allerdings kann dann natürlich ein Sohn des Josef nicht mehr Augenzeuge der Ereignisse rund um die Geburt Jesu sein. Das Protevangelium des Jakobus wurde deswegen auch im Westen verboten - mit der Konsequenz, dass der offensichtlich beliebte Inhalt in einem anderen Werk weiterhin verbreitet wurde. Als Verfasser des sogenannten "Pseudo-Matthäusevangeliums" begegnet in einigen Handschriften weiterhin "Jakobus, der Sohn des Josef": "Ich, Jakobus, Sohn Josefs, des Zimmermanns, der ich in Furcht Gottes lebe, habe alles aufgeschrieben, was ich selbst mit meinen eigenen Augen zur Zeit der Geburt (. . .) des Heiland gesehen habe."

Zahlreichen Handschriften ist jedoch ein fiktiver Briefwechsel vorangestellt. Der Kirchenvater Hieronymus ist als Bibelübersetzer bekannt. Und hier bitten zwei Bischöfe in einem Brief an Hieronymus, dass er ihnen ein angeblich auf Hebräisch von Matthäus verfasstes Kindheitsevangelium ins Lateinische übersetzen und schicken möge. Ein Teil dieser geschickten Fälschung ist die Glaubwürdigkeit der Situation: Und da Hieronymus als Bibelübersetzer bekannt ist und seinen Lebensabend im Heiligen Lande verbracht hat, ist natürlich die Annahme, dass er dort noch auf einen weiteren hebräischen Text gestoßen sein könnte, recht einleuchtend. Mit Hilfe der Sprachbarriere - der Text muss "für lateinische Hörer" übersetzt werden - kann auch erklärt werden, warum der Text in früherer Zeit im Westen nicht bekannt war.

Dass dieser Text weite Verbreitung gefunden hat, zeigen nicht nur die zahlreichen handschriftlichen Zeugen. Kaum jemandem fällt auf, dass die in keiner Krippendarstellung fehlenden Tiere Ochs und Esel nicht in der Bibel stehen. Im Pseudo-Matthäusevangelium hingegen heißt es (14.1): "Am dritten Tage aber nach der Geburt des Herrn trat Maria aus der Grotte und ging in einen Stall und legte den Knaben in eine Krippe, und Ochs und Esel beugten die Knie und beteten ihn an."

Fälschungsmoden

Mit Hilfe derartiger Texte konnten Antworten auf Fragen gegeben werden, die durch die biblischen Texte aufgeworfen werden. Die Glaubwürdigkeit der Fiktion spielt dabei eine Rolle. Und damit erfüllten die erwähnten Texte in der Antike eine ähnliche Funktion wie der eingangs genannte Papyrus. Allerdings ist heute eine Fälschung, die Detailinformationen rund um die Geburt Jesu zu liefern vorgibt, weniger interessant und medienwirksam als ein Text, der über eine angebliche Beziehung Jesu zu einer Frau berichtet. Und so gehen offensichtlich auch Fälscher mit der Mode.

Hans Förster, geb. 1969, ist Kirchenhistoriker und leitet an der Universität Wien zwei Forschungsprojekte des Wissenschaftsfonds (FWF) zu neutestamentlichen Handschriften.