Der Namensgeber der deutschen Arbeitsmarkt- und Sozialreform, verteidigt die damaligen Maßnahmen.
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Als "kranker Mann Europas" galt Deutschland Anfang des vergangenen Jahrzehnts. Der sozialdemokratische Kanzler Gerhard Schröder griff zu drastischen Maßnahmen. Er baute nach Vorschlägen einer Kommission unter Leitung des damaligen VW-Personalvorstands Peter Hartz Arbeits- und Sozialmarkt um, verletzte auch die EU-Defizitkriterien. Heute wird das vermeintliche Jobwunder in manch Krisenländern bestaunt. Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen sind jedoch enorm: 4,31 Millionen Deutsche beziehen Hartz IV, das die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe beinhaltet. Alleinstehende Bezieher müssen mit 391 Euro pro Monat auskommen. Und die SPD stellt seit Umsetzung der Reform nicht mehr den Kanzler. Seit 2005 regiert Angela Merkel (CDU).
"Wiener Zeitung": François Hollande hat Sie Anfang des Jahres empfangen. Sie gelten zwar nicht als offizieller Berater von Frankreichs Präsidenten, welche Vorschläge haben Sie ihm aber unterbreitet?Peter Hartz: Ich habe mit dem französischen Think Tank "En Temps Réel" (dieser steht den Sozialisten nahe, Anm.) Vorschläge zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit erarbeitet und darüber gesprochen.
Jugendarbeitslosigkeit ist ein drängendes, aber nicht das einzige Problem Frankreichs. Siehe steigende Staatsverschuldung, gesunkene Wettbewerbsfähigkeit und hohe Lohnstückkosten. Wie kann Frankreich aus der Krise kommen?
Frankreich ist eine große und starke Nation, hat viele intelligente Köpfe. Die Probleme wurden erkannt, man ist auf gutem Weg.
Welche Probleme müssten als Erste gelöst werden?
Überlassen wir das Lösen der Probleme doch den Franzosen.
Dann sprechen wir über Deutschland. Keynesianische Kritiker sagen, Deutschland sei das Hauptproblem der Eurozone. Beispielsweise ging mit dem Leistungsbilanzüberschuss ab den 2000er Jahren ein entsprechendes Defizit in Irland, Portugal, Spanien, Italien und Griechenland einher. Was entgegnen Sie dieser Kritik?
Jedes EU-Mitgliedsland muss seine Hausaufgaben selbst machen, seine Strukturen und Finanzierung in Ordnung bringen und die Probleme selbst lösen.
Auch aufgrund der sogenannten Hartz-Reformen wuchsen die Reallöhne in Deutschland weniger schnell als die Produktivität, der traditionell starke Exportsektor wurde noch wettbewerbsfähiger. Heute werden in Frankreich 40 Prozent weniger Autos als 2005 produziert, in Deutschland 15 Prozent mehr. Erdrückt man nicht die anderen Länder?
Nein. Jede Arbeitsmarktreform muss vom Anspringen der Konjunktur begleitet werden. Die Lohnentwicklung ist nun einmal Teil der Wettbewerbsentwicklung.
Sie sind seit 50 Jahren SPD-Mitglied. Hartz IV hat viel Kritik von Links verursacht. Was an der Reform war sozialdemokratisch?
Alles, weil das Problem gelöst wurde. Die Arbeitslosigkeit sank von fünf auf weniger als drei Millionen. Was gibt es Sozialdemokratischeres, als den Bürgern Würde, Job und Perspektive zu geben? Natürlich werden aber in einer Demokratie Vorschläge einer Kommission nicht 1:1 umgesetzt. Sonst wäre einiges noch besser gelungen.
Sinkende Arbeitslosigkeit führte in Deutschland nicht zu sinkendem Armutsrisiko. 37 Prozent der Haushalte verfügen laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, über kein Vermögen.
Das ist eine statistische Betrachtung der OECD. Fakt ist, dass wir viele zusätzliche Jobs, auch Teilzeit und Minijobs bis 450 Euro pro Monat geschaffen haben, die Ausgangspunkt für voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen sein können.
Gleichzeitig sind Geringverdiener in Deutschland stärker von Altersarmut bedroht als in vielen anderen Industriestaaten. Ein Minijobber, der ein Jahr tätig ist, erwirbt einen monatlichen Pensionsanspruch von 3,11 Euro. Züchtet man damit nicht heute die Armen von morgen?
Die Altersversorgung muss gelöst werden, das ist eine Baustelle.
Sie sagen selbst, die Langzeitarbeitslosen sind bei den Reformen zu kurz gekommen und gehören stärker gefördert.
Das liegt mir am Herzen. Man muss Langzeitarbeitslose in ihrem Denken und Verhalten dort abholen, wo sie sich befinden.
Was halten Sie vom deutschen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde, der 2015 eingeführt wird?
Bereits im Jahr 2002 hat die von mir geleitete Kommission einen Mindestlohn vorgeschlagen. Jeder Mensch muss ein menschenwürdiges Mindesteinkommen haben.
Sie haben mit "Europatriates" ein Konzept für Europas Jugend vorgelegt, das 215 Milliarden Euro kosten würde. Für die Umsetzung von großen Projekten brauche es drei Dinge: Ideen, Ressourcen und Macht, sagten Sie einmal. Woher nehmen Sie die Ressourcen?
Der private Finanzsektor in Europa macht 3000 Milliarden Euro aus, enorme Summen warten darauf, angelegt zu werden. Das Programm könnte also privat finanziert werden, die Schulden der Krisenländer würden nicht steigen. Kernidee ist ein handelbares Ausbildungszeit-Wertpapier, vergleichbar mit einem modernen Bausparvertrag. Bloß wäre es auch ein verbrieftes Konjunkturprogramm für Bildung und Ausbildung.
Private Investoren handeln nicht altruistisch. Wer garantiert die Rendite auf das Papier?
Da ist Fantasie erforderlich. Die Wirtschaft braucht guten Nachwuchs und wäre vielleicht bereit, eine entsprechende Ausbildung zu finanzieren. Auch die jeweiligen Volkswirtschaften könnten einen Beitrag leisten, schließlich kosten Arbeitslose enorme Summen.
Notwendig für ein derartiges Projekt wäre aber, die Arbeitsmarktpolitik der EU-Länder zu harmonisieren. Wie soll das gelingen?
Wir haben in sechs Jahren neue Tools wie eine Talentdiagnostik und einen Beschäftigungsradar entwickelt, das zeigt, wo was gesucht wird. Das wäre jetzt ein Anschubprojekt, gesteuert von Brüssel, ausgeführt von den nationalen Wirtschaften. Jede Arbeitsverwaltung könnte von anderen Verwaltungen profitieren, Best-Practice-Modelle übernehmen. Das Problem Jugendarbeitslosigkeit wäre in zwei bis drei Jahren lösbar. Es lässt sich aber nur top-down lösen, deswegen suchen wir nun das Gespräch mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
Zur Person
Peter Hartz
entwarf die nach ihm benannte Arbeitsmarkt- und Sozialreform für SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Im Zuge einer Korruptionsaffäre trat er 2005 als VW-Personalvorstand zurück, 2007 wurde er wegen Untreue verurteilt.