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Alles dreht sich um Kinder

Von Magdalena Brugger

Politik
Norbert Ceipek (r.) leitet die Drehscheibe, die für minderjährige Flüchtlinge Sprachkurse und psychosoziale Betreuung anbietet.
© Luiza Puiu

Die Wiener "Drehscheibe" hilft unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, in Österreich Fuß zu fassen.


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Wien. Bunte Zeichnungen hängen an den Wänden, auf der Couch liegt eine rosa gekleidete Puppe, daneben ein zerknautschter Kinderpullover. "Der Großteil der Kinder ist gerade in der Schule. Normalerweise herrscht hier ein dichtes Gewusel", sagt Norbert Ceipek, Leiter der Wiener "Drehscheibe". Die Einrichtung ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Dreh- und Angelpunkt: Hier werden unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgenommen, betreut und ihr weiterer Verbleib in Österreich organisiert: "Wir versuchen, einen geeigneten Wohnort für die Kinder zu finden oder - wenn sie das wünschen - ihnen bei der Rückkehr ins Heimatland zu helfen", sagt Ceipek.

Im Jahr 2013 kamen knapp 1200 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Österreich. Das sind Minderjährige, die ohne Eltern, Verwandte oder sonstige Bezugspersonen nach Österreich geflüchtet sind. Laut Innenministerium stammt der Großteil von ihnen aus Afghanistan, der Russischen Föderation und Syrien. Die Kinder werden - zumeist an Raststätten oder Bahnhöfen - von der Polizei aufgegriffen und zur "Drehscheibe" gebracht. Dort helfen Mitarbeiter den Kindern, einen Asylantrag zu stellen. Während das Asylverfahren läuft, können die unbegleiteten Minderjährigen in den Räumlichkeiten der "Drehscheibe" wohnen. "Wir kochen und spielen mit ihnen, organisieren Arztbesuche, vermitteln im Bedarfsfall eine psycho-soziale Betreuung, kümmern uns um die künftige Wohn- und Schulsituation und bieten Sprachkurse an", erklärt der 63-jährige Ceipek. Die individuelle Betreuung der Kinder sei dabei der wichtigste Aspekt: "Wenn ein Kind nicht lesen kann, müssen wir uns zunächst mal um dessen Alphabetisierung kümmern. Es gleich in die Schule zu stecken, hilft da wenig."

Im Gemeinschaftsraum stehen mehrere große Sofas, Sessel und ein riesiger Holztisch. In der Küche hängen Schilder, auf denen Kochutensilien abgebildet sind. Darunter stehen deutsche Begriffe wie "Topf", "Teller" oder "Gabel". Ein Schild verweist auf den Deutschkurs, der zwei Mal pro Woche angeboten wird. Die Sprachbarriere stellt nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Mitarbeiter eine Herausforderung dar. Weil die Kinder meistens weder Deutsch noch Englisch sprechen, werden Dolmetscher engagiert, die den Sozialarbeitern helfen, mit den Kindern zu kommunizieren. Die Kinder untereinander hätten hingegen kaum Probleme mit der Kommunikation: "Sie sprechen mit Händen und Füßen und verstehen sich problemlos, ganz egal welche Muttersprache sie haben. Das ist faszinierend", sagt Ceipek.

Falsche Altersangaben

Ein Mitarbeiter und ein Bub betreten die Küche und beginnen, zwei Einkaufstaschen auszupacken. Der 11-Jährige lebt erst seit kurzem in der "Drehscheibe". Die Eltern hätten ihn geschlagen, weil er "nicht stehlen gehen" wollte, sagt er. Deswegen sei er von zu Hause weggelaufen und nach Österreich gekommen. "Es ist oft schwierig, herauszufinden, was die Hintergrundgeschichten der Kinder sind. Es braucht Zeit, bis sie sich öffnen und Vertrauen aufbauen", schildert Ceipek.

In manchen Fällen ist aber nicht die Verschlossenheit das Problem. Ein Teil der hier aufgenommenen Minderjährigen gibt bewusst falsche Informationen über sich preis: "Es gibt im Grunde zwei Gruppen", erklärt Ceipek: "Einerseits Flüchtlinge, die aus Krisengebieten stammen und sofort ihren Namen nennen. Andererseits werden Kinder zu uns gebracht, die von Organisationen oder Eltern zum Betteln und Stehlen nach Österreich geschickt wurden." Weil sie ihre eigene Identität und die Hintermänner der Organisation schützen wollen, geben sie falsche Namen an, ist Ceipek überzeugt: "Ich habe jetzt schon insgesamt 42 Kinder mit dem Namen Osmanovic hier gehabt. Das wirkt ziemlich unglaubwürdig."

Beim Alter würden die meisten Kinder schummeln. Weil sie meistens keinen Ausweis dabei haben, kann das Alter nicht überprüft, sondern nur geschätzt werden. "Die meisten machen sich jünger, um in den Genuss der Jugendwohlfahrtmaßnahmen zu kommen. 18-Jährige gelten als Erwachsene und müssen alles auf eigene Faust organisieren. Deswegen sagen sie, dass sie 16 statt 18 sind", sagt der 63-Jährige. Unbegleitete Flüchtlingskinder haben unter anderem Anspruch auf Gesundheitsversorgung, Schulbildung, psychologische Betreuung, Unterkunft und Obhut sowie eine Vertretung in asylrechtlichen Verfahren. Diese Grundsätze sind in mehreren Abkommen verankert, wie der UN-Kinderrechtskonvention, dem Menschenrechtsabkommen oder der Genfer Flüchtlingskonvention.

Kriegsflüchtling

Auf den Strohsesseln im Gang hat es sich mittlerweile ein Bub bequem gemacht. Er heißt Emran und hat 2012 in der "Drehscheibe" gewohnt. Er ist Kriegsflüchtling aus Afghanistan, sein Vater wurde vor seinen Augen erschossen. Die Kinder bleiben bis zu vier Monate in der Einrichtung. Bis dahin muss das Asylverfahren abgeschlossen sein. Danach wird eine Unterkunft organisiert, in der sie längerfristig leben können. Trotzdem statten die Schützlinge der "Drehscheibe" später noch ab und zu Besuche ab. "Hallo, Chef", begrüßt Emran den Leiter der Einrichtung grinsend.

Ceipek, der von den Kindern nur "Chef" genannt wird, freut sich, wenn er hier alte Bekannte sieht. "Wir haben Burschen, die als Flüchtlinge gekommen sind, hier Fuß gefasst haben und jetzt, weil sie schon ein bisschen älter sind, zu uns kommen und dolmetschen. Weil wir ihnen damals geholfen haben, helfen sie uns jetzt. Es ist irrsinnig klasse, wenn man das sieht."

Geschwister entführt

Nicht in allen Fällen läuft es aber gut. Ceipek erinnert sich an einen 17-Jährigen, der von Afghanistan nach Österreich flüchtete. "Kurz vor Weihnachten wollte er plötzlich wieder zurück. Er saß auf dem Strohsessel und hat stundenlang immer wieder dieselbe traurige Melodie auf einer Melodica gespielt." Vor seinem Rückflug nannte er dann den Grund für seinen spontanen Entschluss: "Per Telefon hat er erfahren, dass die Schlepper, die ihn nach Österreich brachten, seine beiden kleinen Geschwister entführt haben. Der Bub war den Schleppern nämlich noch 8000 Dollar schuldig. Er wusste, dass er - wenn er zurück nach Afghanistan kehre - eine Rückkehrhilfe von 3500 Euro bekommt. Mit dem Geld wollte er seine Geschwister freikaufen", berichtet Ceipek. Die "Drehscheibe" habe dann alles in die Wege geleitet, damit er seine Geschwister findet.

Schlepperorganisationen verlangen laut Ceipek im Schnitt zwischen 8000 und 10.000 Dollar, um eine Person nach Österreich zu bringen. Das Geld würde meist von der Familie aufgebracht: "Die Eltern verkaufen ihr ganzes Hab und Gut, nur um ein Kind ins Ausland zu schicken. Dieses soll dann im ,gelobten Land‘ Geld lukrieren und der Familie schicken. Auf dem Kind lastet eine enorme psychische Bürde, zumal es auch niemals genügend Geld zusammenbekommt, als dass ich die Investition der Eltern lohnen würde", schüttelt Ceipek traurig den Kopf.

Laut Bundeskriminalamt wurden in Österreich 2013 insgesamt 352 Schlepper gezählt. 148 davon wurden identifiziert, 58 verhaftet. Die Zahl der geschleppten Personen belief sich auf rund 12.300, die meisten stammten aus Syrien und Afghanistan.

"Einrichtungen wie die Drehscheibe können der Schlepperkriminalität zwar nicht direkt entgegenwirken, aber wir können Kindern helfen, ein gutes, neues Leben in Österreich aufzubauen", erklärt Ceipek.

Der Leiter und Gründer des Projekts fordert ähnliche Einrichtungen für jede österreichische Bundeshauptstadt. Auf europäischem Terrain ist Wien bereits Vorreiter: Erst vor kurzem ist in Bern eine "Drehscheibe" nach Wiener Vorbild gegründet worden. Aus London sei ebenfalls eine Anfrage gekommen: "Die wollen jetzt auch eine Drehscheibe", freut sich Ceipek.