Mehr als 30 Menschen sterben bei einem Doppelanschlag in der EU-Hauptstadt Brüssel.| Zu den Angriffen bekennt sich der Islamische Staat, die Rufe nach mehr Befugnissen für die Sicherheitsbehörden werden wieder einmal lauter.
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Brüssel. Kurz nach acht Uhr Früh sind erstmals die ohrenbetäubenden Sirenen der Einsatzfahrzeuge zu hören, die mit hohem Tempo hinaus zum Flughafen Zaventem fahren. Noch schneller sind allerdings die schlechten Nachrichten selbst. Wer an diesem Dienstagmorgen seine Kinder in den Kindergarten bringt oder beim Bäcker ansteht, wird oft schon mit der Frage "Haben Sie schon gehört, was passiert ist?" begrüßt.
Etwas gehört haben tatsächlich schon viele in Brüssel, doch nur die Wenigsten können oder wollen sich zu diesem Zeitpunkt ausmalen, wie es in der großen Abflughalle aussieht. Dort liegen überall Schutt und die Splitter der vor kurzem geborstenen Glasfenster. Die Luft ist voller Staub, das Atmen fällt schwer. Auf dem Boden liegen zwischen ramponierten Gepäcksstücken Tote und Verletzte, an vielen Stellen klebt Blut. Wer sich noch bewegen kann, versucht zu helfen oder über sein Mobiltelefon Hilfe zu holen. Die kurz darauf eintreffenden Rettungskräfte bergen schließlich 10 Tote und 80 Verletzte aus der großen Terminalhalle. Viele von ihnen dürften dabei von einer zweiten Bombe getroffen worden sein, die gezündet wurde, als die Menschen nach einer wenige Sekunden zuvor erfolgten Explosion in Richtung Ausgang liefen. Laut Alphonse Youla, der am Flughafen Zaventem bei der Gepäckssicherheit arbeitet, hat unmittelbar zuvor ein Mann ein paar Worte auf Arabisch gerufen. Im Laufe des Tages finden die Behörden dann neben einem der Toten eine Kalaschnikow, also jenen Typ von Sturmgewehr, den die islamistischen Attentäter auch bei den Pariser Anschlägen mit knapp 130 Toten verwendet hatten.
Doch nicht nur die Waffe ist gleich. Genauso wie in der französischen Hauptstadt schlagen die Attentäter auch in Brüssel mehr als nur einmal zu. Knapp eine Stunde nach dem Anschlag in Zaventem kommt es zu einer Explosion in einem U-Bahn-Zug, der gerade aus der Station Maelbeek Richtung Innenstadt abfährt. Der mittlere der drei Waggons wird dabei fast völlig zerstört. Auf Videobildern sieht man kurze Zeit später, wie völlig verängstigte Passagiere aus dem Zug klettern und durch den dunklen Tunnel laufen. Ein Kind weint, ein paar Menschen murmeln. Wohin es genau geht und was dort auf sie wartet, weiß zu diesem Zeitpunkt keiner von ihnen.
Szenen wie im Krieg
Auch an der Oberfläche sieht es nach der Explosion aus wie in einem Kriegsgebiet. Aus dem Abgang zur Metro-Station steigt Rauch auf, die mehr als 100 Verletzten werden entweder unmittelbar auf der normalerweise dicht befahrenen Straße verarztet oder in ein nahegelegenes Hotel gebracht. Tief erschüttert zeigen sich selbst Menschen wie Pierre Meys, der als Sprecher der Brüsseler Feuerwehr eigentlich nicht so leicht aus der Fassung zu bringen ist. In seinen 40 Berufsjahren habe er "noch nie so was Schreckliches gesehen", sagt Meys gegenüber der Online-Ausgaben von "Le Soir". "Alles ist zerstört und liegt in Stücken."
Angesichts des enormen Ausmaßes an Zerstörung geraten aber nicht nur die Einsatzkräfte an ihre Belastbarkeitsgrenzen. Für die Behörden ist es lange Zeit auch unmöglich festzustellen, wie viele Opfer es in der U-Bahn gegeben hat. Erst im Lauf des Nachmittags verdichten sich die Hinweise darauf, dass es rund 20 Tote sind.
Abgeriegeltes Parlament
Dass die EU-Hauptsadt zum Anschlagsziel wird, haben die Behörden bereits seit längerem befürchtet. Gleich mehrere der Pariser Attentäter stammten aus dem Brüsseler Brennpunktviertel Molenbeek, das als europäisches Logistikzentrum des sogenannten Islamischen Staates (IS) gilt und wo am Freitag auch der flüchtige Mittäter Salah Abdeslam nach einer dramatischen Polizeiaktion gefasst wurde. Terrorexperten wie Rolf Tophoven sehen in den Anschlägen sogar eine direkte Reaktion auf die Festnahme. Er gehe davon aus, dass das Umfeld Abdeslams zeigen wolle, dass es weiter handlungsfähig und nicht operativ geschwächt sei. Ganz falsch dürfte Tophoven damit nicht liegen: Am Dienstagnachmittag bekennt sich der IS auch offiziell zu den Anschlägen im politischen Nervenzentrum des Kontinents.
Im Europaviertel herrscht zu diesem Zeitpunkt gespenstische Stimmung. Der Place Lux mit seinen vielen Cafés, sonst immer gut besucht, ist menschenleer. In der Ferne heulen Sirenen, Helikopter kreisen. Auf den Straßen überall Sperren, Polizei, Soldaten mit Maschinengewehren. Zuvor hatte die Polizei Menschen dazu aufgerufen, zu Hause zu bleiben - oder in den Gebäuden, in denen sie sich gerade aufhalten.
Hermetisch abgeriegelt wird auch das Europäische Parlament. Als um halb neun die ersten Meldungen kommen, sitzt der SPÖ-Europaabgeordnete Eugen Freund gerade bei einer Debatte des Außenpolitischen Ausschusses. "Ich habe dafür plädiert, dass wir weitermachen", sagt Freund zur "Wiener Zeitung". "Wir dürfen uns nicht vom Terror in die Knie zwingen lassen." Es gibt eine Schweigeminute, dann werden Debatten und Abstimmungen fortgesetzt - doch konzentrieren kann sich ohnehin niemand mehr, alle hängen an ihren Smartphones. Eigentlich hätten die meisten Abgeordneten am Mittwoch nach Hause fliegen wollen, doch nun sitzen sie wegen der gestrichenen Flüge in Brüssel fest.
Überrascht ist Freund nicht - es sei anzunehmen gewesen, dass sich der Terror nicht so schnell stoppen lassen werde. Doch diesmal hat es das politische Zentrum der EU getroffen, die Bombe explodierte keine fünf Gehminuten vom EU-Parlament. Hätte es auch Ziel sein können? "Ich habe mir schon lange gedacht, dass es ein Sicherheitsrisiko im Europäischen Parlament gibt", sagt Freund. Bis zum Herbst habe es gar keine Soldaten vor dem Gebäude gegeben, nach den Anschlägen von Paris zwei, am Dienstag seien es dann immerhin zehn gewesen. "Will man eine offene Gesellschaft, dann ist man auch in der Überwachung eingeschränkt", sagt Freund. Zum Glück habe das Parlament keinen Preis dafür bezahlen müssen. "Was jetzt nicht passieren darf ist, dass die Angst regiert. Wenn wir die Demokratie einschränken, dann gewinnen die Terroristen."
Populisten sehen sich bestätigt
Ganz andere Töne sind hingegen von Freunds Fraktionskollegen, dem französischen Präsidenten François Hollande, zu hören: "Wir stehen vor einer globalen Bedrohung, die es erfordert, dass wir global darauf antworten", sagt er. "Der Krieg gegen den Terrorismus muss in ganz Europa geführt werden und mit den notwendigen Mitteln, insbesondere im Bereich der Nachrichtendienste."
Europäischen Zusammenhalt fordert an diesem Dienstag auch David Cameron ein. "Wir werden diese Terroristen niemals gewinnen lassen", sagt der britische Premier nach einer Krisensitzung. "Heute ist ein Tag des Mitgefühls, des Beileids und auch der Verstärkung unserer eigenen Sicherheit." Europa müsse im Antiterrorkampf zusammenstehen.
Einfach dürfte das aber nicht werden. Bereits am Dienstag zeigt sich, das viele Europagegner politisch Kapital aus den Anschlägen schlagen wollen. "Dieser entsetzliche Akt des Terrorismus zeigt, dass die Bewegungsfreiheit unter Schengen und lasche Grenzkontrollen eine Gefahr für unsere Sicherheit darstellen", verkündete etwa der britische Ukip-Abgeordnete Mike Hookem. Andere Populisten warnen vor Islamisierung und mobilisieren gegen Einwanderer. "Alle solidarisch mit den Toten. Wann seid ihr endlich solidarisch mit den Lebenden?", twitterte etwa der AfD-Politiker Marcus Pretzell.