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Alles verspielt

Von Michael Schmölzer

Leitartikel

Die Tunesier haben sich ihre blutig erkämpfte Demokratie zu leichtfertig entreißen lassen.


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Die politische Situation in Tunesien, dem Pionierland des Arabischen Frühlings, ist mittlerweile wieder zu einem Albtraum geworden. 2011 gingen Massen auf die Straße, um Langzeit-Diktator Zine el-Abidine Ben Ali erfolgreich zu verjagen. Die Demonstranten, vor allem junge Menschen, hatten die Vision von einem besseren Leben mit Jobs und Demokratie.

Und - es gelang. Tunesien war das einzige arabische Land, in dem die Protestbewegung tatsächlich in die Etablierung eines freien, demokratischen Systems mündete.

Heute gehen tausende Tunesier wieder auf die Straße, um Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit einzufordern; sie müssen erkennen, dass sie all das leichtfertig verspielt haben.

Der neue Ben Ali heißt Kais Saied. Er hat das Parlament entmachtet, lässt Kritiker in großer Zahl inhaftieren, regiert mit harter Hand und enormer Machtfülle. Saied hat das in einer Geschwindigkeit geschafft, die Möchtegern-Diktatoren international vor Neid erblassen lässt.

Zunächst haben sich viele von dem ehemaligen Jusprofessor, der Muammar al-Gaddafi als Vorbild nennt, täuschen lassen. Oft haben sie sich nur zu gerne hinters Licht führen lassen. Die Wahl 2019 hat Saied mit Parolen des Arabischen Frühlings gewonnen, er präsentierte sich als leutseliger Mann von nebenan, stets freundlich und allen zugewandt.

Als er sich dann zurückzog und damit begann, die Demokratie im Land zu demontieren, applaudierten viele Tunesier. Ging es doch offiziell darum, Korruption, wirtschaftlichen und politischen Stillstand zu beseitigen und die Islamisten im Land zu bekämpfen.

Jetzt sind Parlament und Regierung entmachtet, Saied regiert per Dekret. Politiker, Geschäftsleute und Journalisten wandern reihenweise in Haft, Richter werden gefeuert. Politische Gegner sind für den neuen starken Mann "Terroristen". Die Armut in Tunesien wächst weiter, die Menschen sind desillusioniert, bei den vergangenen Wahlen war die Beteiligung äußerst gering. Die Visionen des Jahres 2011 gibt es nicht mehr, den Menschen scheinen die Kraft und der Wille zu fehlen, sich gegen die Renaissance der Despotie zur Wehr zu setzen.

Wobei gerade jetzt auf einen Geburtsfehler der tunesischen Demokratie nach 2011 hingewiesen wird, der in der Tat beachtenswert ist: Es gibt dort einfach kein Verfassungsgericht, das den ungezügelten autokratischen Bestrebungen des Präsidenten Einhalt gebieten könnte.

In Israel ist die aktuelle Regierung übrigens gerade dabei, die Befugnisse des Obersten Gerichts zu beschneiden. Die zahllosen Demonstranten, die dagegen Sturm laufen, wissen, warum.