Mit dem Nahen der Präsidentschaftswahl in Frankreich lockern sich wieder die Sitten im Straßenverkehr. Parkverbote und Tempolimits scheinen außer Kraft gesetzt, viele Fahrer sind immer risikobereiter. Entgegen dem langjährigen Trend stieg die Zahl der Todesopfer im Straßenverkehr im September um 6,5 Prozent. Denn die Autofahrer scheren sich nicht mehr um Strafzettel oder Bußgelder - sie warten auf die traditionelle Amnestie des neuen Präsidenten im Frühjahr.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 23 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Im 15. Pariser Arrondissement hält ein Kleinwagen an einer Bushaltestelle. Ganz entspannt ignoriert der Fahrer zwei Politessen, die ihn auffordern weiterzufahren und ihm schließlich ein Strafmandat verpassen - ein alltägliches Beispiel. "In Erwartung der Amnestie lässt die Disziplin nach", bedauert der Sprecher der Polizeigewerkschaft SNPT, Charles Mandes. "Beim Parken machen die Leute inzwischen, was sie wollen." So respektiere kein Mensch mehr Behindertenparkplätze - "typisch französisch", schimpft der Polizist.
Ein halbes Jahr vor der Präsidentenwahl schlagen mehrere Verbände Alarm. Die angekündigte Straffreiheit werde wieder mit "einem bedeutenden Menschenopfer" bezahlt, warnt Genevieve Jurgensen, die nach dem Unfalltod ihrer beiden Töchter die Liga gegen die Gewalt auf der Straße gegründet hat. Nach Angaben eines Verbands für mehr Sicherheit im Straßenverkehr starben in dem halben Jahr vor den Präsidentschaftswahlen 1988 und 1995 bei Unfällen 708 beziehungsweise 260 Menschen mehr als statistisch zu erwarten war. 1974, als nach dem Tod von Präsident Georges Pompidou kurzfristig Wahlen angesetzt wurden und eine Amnestie also nicht monatelang vorher absehbar war, blieb dieses Phänomen aus.
Frankreichs Straßen gehören ohnehin zu den gefährlichsten Europas. Im vergangenen Jahr gab es dort 8.079 Verkehrstote. In Deutschland mit etwa 20 Millionen mehr Einwohnern waren es 7.487. Genevieve Jurgensen forderte jüngst bei einem Empfang im Elysee-Palast Amtsinhaber Jacques Chirac auf, ganz auf eine Amnestie zu verzichten. Doch der derzeitige Favorit für seine eigene Nachfolge will keine potenziellen Wähler verprellen. Wer das Leben anderer gefährde, werde keinesfalls in den Genuss der Straffreiheit kommen, sagte Chirac lediglich. Am "republikanischen Brauch" der Amnestie werde er aber festhalten.
Für Genevieve Jurgensen ist das kein klares Signal an die Autofahrer: "Gefährdet jemand nicht schon das Leben anderer, wenn er in einer geschlossenen Ortschaft Tempo 60 fährt?" fragt sie. Studien bejahen dies ganz klar. Nach seiner Wahl 1995 erließ Chirac aber Strafen für Vergehen, die den Fahrer eigentlich bis zu drei der insgesamt zwölf Punkte seines Führerscheins gekostet hätten, darunter Geschwindigkeitsüberschreitungen bis 40 Stundenkilometer und gefährliches Überholen. Für Alkohol am Steuer und Fahrerflucht gab es keinen präsidentiellen Pardon.
Chiracs mutmaßlicher Wahlgegner, der sozialistische Premierminister Lionel Jospin, hat sich noch nicht klar zu diesem Thema geäußert. Sein Verkehrsminister Jean-Claude Gayssot sprach sich hingegen deutlich gegen jede Amnestie aus. Er spreche aber nicht für die Regierung, sondern nur für sich selbst, versicherte der Kommunist umgehend.