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Alles, was Recht ist

Von Nikolaus Lehner

Recht

In einer Festschrift für Ex-Justizminster Wolfgang Brandstetter werden diverse Themengebiete fragmentarisch beleuchtet.


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Der 65. Geburtstag von Wolfgang Brandstetter bildet den Anlass einer von Otto Dietrich, Severin Glaser, Robert Kert und Alexander Tipold im Jan Sramek Verlag herausgegebenen Festschrift, für die zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der freien Rechtsberufe und verschiedener Wissenschaftsdisziplinen Beiträge verfasst haben. Der Zusammensetzung der Autorenschar entsprechend prägt die gelebte Verbindung von Wissenschaft und Praxis den Charakter der weder unter ein konkretes Motto noch mit einem Titel bedachten Festschrift. Die Gratulanten zeigen in teils konzisen und straffen, teils ausführlicheren Aufsätzen ihren wissenschaftlichen Hintergrund und versuchen, für die Rechtspraxis nutzbare Erkenntnisse zu gewinnen. Zu Recht, denn weder Rechtsanwendung noch Rechtserforschung sind ohne wissenschaftliche Fundierung für eine zielführende Vermittlung geeignet.

Ein Teil der Verfasserinnen und Verfasser der Abhandlungen stammt aus dem näheren beruflichen Umkreis des Jubilars, sei es aus der Anwaltschaft, sei aus der Universität, und ist ihm eng verbunden. Beiträge von Angehörigen der Justiz finden sich in der einem ehemaligen Justizminister und Verfassungsrichter gewidmeten Gabe nicht, was wohl nur mit dem einzigartigen Umstand anhängiger strafrechtlicher Verfahren erklärt werden kann. Umso stärker ist das Bemühen der Herausgeber erkennbar, eine große Zahl von Weggefährten aus den anderen Bereichen des Wirkens des Jubilars zu versammeln.

Die daraus resultierende inhaltliche Breite der Beiträge ist einer thematischen Strukturierung kaum zugänglich, dementsprechend vermag der Versuch der Herausgeber, das Inhaltsverzeichnis nach sachlichen Aspekten zu gliedern, nicht zu überzeugen. Die starke persönliche Verbundenheit einzelner Autoren mit dem Jubilar bleibt dennoch klar erkennbar.

Karl Kraus und seine Kritik an der Sprachkultur der Justiz

Das gesagt, erweckt der Beitrag des Mitherausgebers Dietrich unter dem Titel "Justizkritik" Interesse und lässt angesichts der einschlägigen Erfahrungen des Autors Spannendes erwarten, auch wenn dies durch den vorsichtsweise nachgeschobenen Nebentitel "Kein Beitrag zur aktuellen Diskussion" deutlich relativiert wird. Gewarnt, aber neugierig, wie Dietrich die Kurve meistert, kann ihm jedoch kein Gelingen attestiert werden. Dies vor allem deshalb, weil er sich wohl vor dem Hintergrund einer persönlichen Nähe zum Jubilar auf eine unterschwellig polemische Auseinandersetzung begibt und doch sehr unspezifisch und allgemein Kritik "an der Justiz" übt.

Bereichernd hingegen ist seine Auseinandersetzung mit der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), beispielsweise bezüglich der Äußerungen von Anwälten außerhalb des Gerichtssaals. Dazu ist zu ergänzen, dass unrichtige oder ehrenrührige Tatsachenbehauptungen durch Paragraf 9 der Rechtsanwaltsordnung nicht gedeckt sind und auch der Oberste Gerichtshof Pressekonferenzen und Interviews nicht als geeignetes Forum ansieht, um Rechtsstandpunkte durchzusetzen. Bei allen Äußerungen muss immer ein ausreichendes Tatsachensubstrat vorhanden und eine entsprechende Verhältnismäßigkeit gegeben sein. Dietrich spannt einen Bogen zu Karl Kraus und dessen Justizkritik in der "Fackel", der puncto Verluderung der Sprachkultur unverändert Gültigkeit zukommt. Ratsam bleibt es, Kraus zu lesen; Rudolf von Jhering ebenso.

In bewusster Wiederholung verweise ich darauf, dass diese Ausführungen von Dietrich ein Highlight der Festschrift darstellen, wenn er betont, dass Kraus Anstoß an der Phrase "Die Sprache ist Ausdruck der Willkür" genommen und schon lange vor Rudolf Kirchschläger eine "Trockenlegung des Phrasensumpfes der Justiz" gefordert hat. Für Kraus ist Recht von Moral zu trennen, denn Richter sind keine Sittenwächter. Auch sei die Geschworenengerichtsbarkeit ein Übel, weil den Laienrichtern die Fähigkeit fehle, zwischen dem Strafbaren und dem (bloß) moralisch Falschem zu unterscheiden.

Noch vehementer kritisiert Kraus die Gerichtsberichterstattung seiner Zeit und ist dieser auch hier weit voraus. Damit die Justiz der Welt nicht den stillen Tod stirbt, bedarf es der permanenten Auseinandersetzung mit ihr und ihrer Sprachkultur, so wie in der "Fackel" die Sphären Strafrecht und Literatur miteinander und jeweils mit ihren gesellschaftlichen Hintergründen verknüpft wurden.

Ebenso bemerkenswert ist die Abhandlung von Ingeborg Zerbes zum Maßnahmenrecht, zu welchem der Jubilar unter dem Eindruck eines groben Missstands eine große Reform medienwirksam initiiert hat, dann aber bei gedrehtem gesellschaftlichen und politischen Wind auf halber Strecke umkehren musste und seinen Nachfolgern nur den Schatten eines Reformansatzes mitgeben konnte. Auch wenn die Reform erst unter der aktuellen Ressortleiterin beschlossen wurde, muss der übrig gebliebene beschämende Kompromiss dem Jubilar zugerechnet werden. Zerbes ist zuzustimmen, dass dieser "mit einer populistischen und nur Scheinsicherheit gebenden Verschärfung des Strafrechts erkauft" wurde. Dass dem in Straßburg Grenzen aufgezeigt werden, bleibt einmal mehr zu hoffen.

Ebenfalls überzeugend ist eine weitere Kritik an legislativen Neuerungen, und zwar von Alois Birklbauer in Bezug auf den assistierten Suizid. Seiner Einschätzung, es handle sich um einen dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) gerade noch genügenden Minimalkompromiss, ist ebenso wenig zu widersprechen wie seiner Forderung nach weiter notwendigen Diskussionen.

Einzelne Fallentscheidungen, aber keine Strafrechtsdogmatik

Kurt Schmoller stellt in seiner Studie, ob Straftatbestände versucht werden können, die vorsätzliches mit fahrlässigem Verhalten kombinieren und beides gleichermaßen erfassen, den uneinheitlichen literarischen Meinungsstand dar. Interessant ist sein Ansatz, es sei Aufgabe der Rechtsprechung (unter anderem in dieser noch einer Klärung harrenden Frage), einzelne Fälle zu entscheiden, aber keine Strafrechtsdogmatik auszuarbeiten. Ich meine, das eine geht nicht ohne das andere, will man Entscheidungen, die für den Betroffenen nachvollziehbar sind. Dies wiederum ist Ausdruck eines Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (MRK) entsprechenden Verfahrens und damit Anknüpfungs- und Ausgangspunkt für das Vertrauen in eine faire Rechtsprechung.

Als weiteres Highlight sehe ich die Studie von Christoph Grabenwarter über das Doppelbestrafungsverbot nach der Judikatur des VfGH und jener des EGMR. Er arbeitet die unterschiedlichen Ansätze heraus, stellt fest, dass der VfGH in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR auch Ziel und Zweck der MRK zu berücksichtigen habe und resümiert, dass der VfGH die Auslegung des EGMR bisher nicht offen kritisiert hat.

Norbert Wess gelingt - wie meist - mit seiner vorerst rhetorischen Frage "Kann eine Sitzordnung verfassungswidrig sein? - Yes, it can!" ein rascher Coup. Als Untertitel wählt er "Eine symbolische Qualität des Strafprozesses" und überhöht damit meines Erachtens eine "einfache Sitzordnung" zur grundlegenden Aussage, dass sogar triviale Fragen eines Strafprozesses in die Verfassung hineinreichen können. In Bezug auf eine effektive Verteidigung hat der Angeklagte das Recht auf eine Gestaltung der Sitzordnung, bei der nicht schon aufgrund einer optischen Komponente klar ersichtlich wird, dass er gegenüber der Staatsanwaltschaft erkennbar schlechter gestellt ist.

Schließlich fordert Martin Nemec mit einer überzeugenden Analyse zur Auslegung des Begriffs der "erheblichen Bedenken", den Paragrafen 285 Absatz 1 Z 5a der Strafprozessordnung endlich zu reformieren, analog dazu auch den Paragrafen 195 Absatz 1 Z 2.

In dieser Buchrezension muss aus Platzmangel eine kritische Behandlung der Beiträge von Klaus Schwaighofer zur Verantwortlichkeit für Folgeunfälle, von Peter Lewisch über "schwarze Kassen und die Untreue", von Peter Schipka zur Frage, ob die Religion eine Gesellschaft gestalten darf, und von Robert Kert über den wirtschaftlich Berechtigten bei der Untreue unterbleiben. Die Fülle der Beiträge und deren durchwegs überzeugende Qualität können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Festschrift wesentliche Sichtweisen auf das Wirken des Jubilars ausblenden musste und daher nur fragmentarisch bleiben kann. Ob dieser unvollständige Blick dem Jubilar uneingeschränkt Freude zu machen vermag, muss dahingestellt bleiben.