Krisen in Europa dienen eigentlich nur noch als Vorwand für fortschreitende Nationalisierung.
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Wer erinnert sich noch? Kaum sechs Monate ist es her, dass ganz Europa im Lockdown war. Beängstigende Bilder aus Bergamo flimmerten über die Bildschirme, nationale Grenzen wurden geschlossen, Europa war im Ausnahmezustand. Dann war plötzlich auf einmal alles möglich, was zuvor als politisch unmöglich gegolten hatte: Die Schuldenbremse in Europa wurde aufgehoben, die 3-Prozent-Regel für Haushaltsdefizite suspendiert, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron setzte seine umkämpfte Rentenreform aus, die EZB mobilisierte im Handumdrehen einen Rettungsschirm, unter dessen Schutz viel Geld für nationale Hilfsprogramme luftgebucht wurde. Europaweit standen Bürgerinnen und Bürger auf Balkonen, sangen "Bella Ciao", schworen einander ewige Solidarität und bessere Bezahlung für die "systemrelevanten Arbeitskräfte" (70 Prozent davon Frauen!).
Europa solle gestärkt und vor allem gemeinsam aus der Krise kommen, "with nobody left behind", so hieß es. Europa solle anders, besser und sozialer werden und vor allem an die Bürgerinnen und Bürger denken. Im Herbst 2020 aber ist schon wieder vieles davon vergessen. Ob Europa nach Corona politisch, sozial und gesellschaftlich strauchelt oder gestärkt aus der Pandemie kommt, ist noch nicht ausgemacht.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft verläuft derzeit eher unauffällig. Die geplante EU-Zukunftskonferenz von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat ihre große mediale Öffentlichkeit, geschweige denn ihre Zielsetzungen noch nicht gefunden. Von weitreichenden europäischen Ambitionen ist generell derzeit nicht viel zu Rede. Alles werde anders, als es war, hieß es doch zu Beginn von Covid-19, oder nicht? Nun, wagen wir eine Bestandsaufnahme, ob jetzt wirklich etwas anders wird in Europa.
Krisen sind die Substanz, aus der die Zukunft gemacht wird. Die kritische Theorie der Erinnerung lehrt uns, dass politische Krisen jene Momente sind, in denen aus traumatischen Erfahrungen heraus ein utopischer Wurf entstehen kann. Das Europa, die EU, in der wir heute leben, ist nichts anderes als der utopische Entwurf eines Europas, das nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem schreienden "Nie wieder!" heraus entstehen konnte: nie wieder Krieg, nie wieder Holocaust.
In den 1950ern gelang es, den utopischen Entwurf eines Europas ohne militärische Konkurrenz zu verrechtlichen: Indem die Produktion von Kohle und Stahl vergemeinschaftet wurde, buchstäblich also kein Land mehr Panzer bauen konnte, waren Kriege fortan auf dem europäischen Kontinent nicht mehr möglich. Das europäische Prinzip wurde es von da an über nunmehr 70 Jahre Europäische Integration, stets jene Dinge zu vergemeinschaften, an denen sich in Krisen mangelnde Solidarität festmachen ließ.
Erfolge durch konsequente Vergemeinschaftung
Als in den 1970ern der europäische Friede zwar gesichert war, Europa aber durch die Beendigung des Bretton-Woods-Systems in wirtschaftliche Turbulenzen und währungspolitische Konkurrenz geriet, beschloss man die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes, um wirtschaftlich und währungspolitisch solidarisch zu sein. 1992 folgte daraufhin der Binnenmarkt, aus dem einen Markt wurde dann 2002 die eine Währung, der Euro. Zentral dabei ist, dass die solidarische, europäische Antwort, die Reaktion auf die jeweils vorausgehende Krise, immer die Vergemeinschaftung substanzieller Politikbereichen war. Die systemische Umstellung von Politikbereichen auf Europa war also lange Jahre die europäische Antwort beziehungsweise die Reaktion auf Krisen. Binnenmarkt und Euro, die heutigen Erfolgsprojekte der EU, sind - es ist in Vergessenheit geraten - alles Produkte konsequenter europäischer Vergemeinschaftung.
Diese Essenz der Vergemeinschaftung, das eigentliche Lebenselixier europäischer Politik, wurde nach der gescheiterten europäischen Verfassung von 2003 im Wesentlichen aufgegeben. Krisen in Europa dienen seither eigentlich nur noch als Vorwand für fortschreitende Nationalisierung. In der Bankenkrise 2009 gelang genau nicht eine Vergemeinschaftung jener Dinge, in denen die Solidarität während der Krise fehlte. Eurobonds waren damals das Unwort der Stunde, politisch nicht durchsetzbar. Dabei fehlte Europa in der Bankenkrise vor rund einer Dekade genau das: gleiche Zinssätze für Staatsanleihen von Eurostaaten, um zu verhindern, dass die Finanzmärkte mit Europas Budgets und Zinssätzen jonglieren. Die sogenannten Spreads (die Unterschiede von Kapitalmarktzinsen einzelner EU-Staaten) waren damals das zentrale Problem. Der Einstieg in gemeinsame Anleihen gelang damals indes nicht.
Und jetzt? Eine der vielleicht überzeugendsten Krisenreaktionen der EU nach der Pandemie sind jene wohl tatsächlich historischen Beschlüsse vom Juli 2020, durch die sie erstmals in ihrer Geschichte gemeinsame Anleihen über 750 Milliarden Euro aufnimmt. Das ist kein Einstieg in eine Schulden-, wohl aber in eine Zinsgemeinschaft - ein Novum.
Wie in früheren europäischen Epochen wurde mithin versucht, die Pandemie zum Anlass für einen Einstieg in eine systemische Verlagerung zugunsten Europas zu nutzen, und das ist gut. Ob die Juli-Beschlüsse aber einen "Hamiltonian-Moment", de facto also den Beginn einer europäischen Staatlichkeit darstellen, ist zweifelhaft. Selbst wenn das europäische Budget durch das Rettungspaket fast verdoppelt wurde, ist es mit rund 1,5 Prozent des europäischen BIP doch viel zu gering, um auch nur Ansatzweise in Richtung Staatshaushalt zu kommen. Dennoch liegt durch diese Beschlüsse perspektivisch und nicht zum ersten Mal die Frage einer europäischen Staatlichkeit auf dem Tisch, denn das europäische Rettungspaket wirft demokratietheoretische und legitimatorische Probleme auf, nämlich wie dem Grundsatz "No taxation without representation" künftig in EU-Europa entsprochen werden soll.
Europa der Bürgerinnen und Bürger, nicht der Staaten
Wenn nach Corona in Europa nichts so bleiben soll, wie es ist, dann ist jetzt die Frage der Ausgestaltung der europäischen Demokratie in Angriff zu nehmen: Wie wollen wir gemeinsam in Europa entscheiden? Die vielbeschworene europäische Souveränität ist nicht länger bei den Staaten, sondern bei Europas Bürgerinnen und Bürgern zu suchen. Diese sind die eigentlichen politischen Subjekte. Die Zukunft von Post-Corona-Europa wird sich daran festmachen, welche Stellung sie - und nicht der Europäische Rat - in Zukunft in Europa haben. Die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger vor dem Recht ist notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für jede Demokratie.
Diesem Grundsatz endlich in Europa gerecht zu werden, ist das Gebot der Stunde, damit Bürgerinnen und Bürger innerhalb Europas nicht mehr zueinander in Konkurrenz gestellt werden. Egal, ob es, wie im Papier zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft skizziert, um eine europäische Arbeitslosenversicherung oder einen europäischen Gesundheitsschutz geht: Post-Corona-Europa ist das Europa der Bürgerinnen und Bürger, nicht der Staaten. Das wäre das schönste Take-away der Krise und die beste Art, aus den traumatischen Bergamo-Bildern ein anderes, soziales und bürgernahes Europa hervorzubringen.