Die ganze Welt blickt auf die Lage in der Ukraine. Diese feierte ungerührt ihren "Tag der Einheit".
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Der Schriftzug "I love Ukraine" lässt ahnen, dass der Kiewer Unabhängigkeitsplatz Maidan mittlerweile eigentlich auch ein Ort für Touristen ist und nicht nur für Demonstrationen. Doch am 16. Februar feiert die Ukraine seit Neustem den "Tag der Einheit". "Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben", stimmt eine kleine Gruppe Demonstranten die erste Strophe der ukrainischen Nationalhymne an. Etwa dreißig Studenten, Aktivisten und Mitarbeitern des ukrainischen Postamtes am Maidan singen voller Inbrunst in den kalten Februarmorgen hinein und versuchen den Lärm der Autos zu übertönen, die hinter ihnen vorbeibrausen.
Umzingelt von beinahe doppelt so vielen internationalen Journalisten, ausgestattet mit Foto- und Videokameras, Notizblöcken und Aufnahmegeräten, zeigt sich ein seit Wochen vertrautes Bild. Manche der Korrespondenten wurden sogar mit Satellitentelefonen und Sicherheitsleuten ausgestattet, für den Fall, dass es in den kommenden Wochen zu einer Eskalation der Lage kommen sollte. Das Interesse der Berichterstatter an den Entwicklungen rund um die Ukraine ist immens. Das was vor Ort passiert bisher wenig.
Hymne und Jubel
Die Drohne eines Filmteams schwirrt über ihrem Kopf, als die 17-jährige Studentin Alla Muliar erzählt, weshalb sie heute ihre Informatik-Vorlesung ausfallen ließ und stattdessen demonstrieren ging. "Es ist wichtig, dem Feind zu zeigen, dass wir vereint sind." Sie hält einen Stock, an dem ein Banner befestigt wurde, das ihr einer der Demonstranten kurzum in die Hand drückte. Doch in anderen Städten, wie Kirowograd in der Zentralukraine oder Sjewerodonezk im Osten, zogen weit mehr Menschen durch die Straßen als in Kiew. "Es ist enttäuschend, dass so wenige Menschen gekommen sind", sagt Muliar mit Blick auf die Anwesenden, die mittlerweile zum dritten Mal die Hymne singen und zudem kamerawirksam die Worte "Tag der Einheit" jubeln.
Seit Wochen sind die Aggressionen Russlands gegen die Ukraine das Top-Thema in den Nachrichten. Dennoch fühlt es sich für viele so an, als würde die Ukraine dafür bestraft werden, und nicht Russland. Eine dänische Fluglinie hatte am Wochenende angekündigt, ihre Flüge in die Ukraine vorerst auszusetzen. Viele Botschaften haben ihr Personal in Kiew reduziert oder in die westukrainische Stadt Lemberg verlegt. Und die britische Boulevardzeitung "Daily Mirror" hat noch am Vorabend darauf bestand, dass eine Invasion der Ukraine am 16. Februar um drei Uhr morgens stattfindet.
Für Alla Muliar und ihre Mitbewohnerinnen begann der Mittwoch deshalb mit einem Blick in die Sozialen Netzwerke. "Kiew steht noch", schreiben manche halb ironisch, halb ernst auf Twitter. "Die Invasion hat noch immer nicht stattgefunden", liest man auf Facebook. "Wir versuchen, optimistisch zu bleiben, obwohl wir gerade einen Informationskrieg erleben", sagt Muliar. Ein Informationskrieg, der sie teilweise um den Schlaf bringt. Die junge Frau wuchs in der südukrainischen Hafenstadt Odessa auf. Ihre Eltern sind noch immer dort und wollten, dass auch sie Kiew verlässt und zurückkommt, bis sich die Lage entspannt. "Meine Mitbewohnerinnen und ich haben beschlossen, dass wir diese Situation gemeinsam durchstehen", sagt Muliar. Eine Notfalltasche hat sie längst gepackt, einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert, der nächste Luftschutzbunker - eine U-Bahn-Station - lokalisiert.
Etwas abseits steht die 40-jährige Irina Krasko. Sie kam deshalb auf dem Maidan, weil sie ihren Mitbürgern zeigen will, dass man die Ukraine nicht so einfach spalten kann. Vor ziemlich genau acht Jahren endeten hier, auf dem Maidan, die blutigen Proteste, die über 100 Todesopfer forderte und auf die die Annexion der Krim und der Krieg im Donbas folgten. Kraskos Ehemann hat im Jahr 2015 selbst als Artillerist an der Front in der Ostukraine gekämpft, wo seit Beginn des Krieges beinahe 15.000 Menschen ums Leben kamen. Der Krieg hat ihren Mann und das Familienleben verändert, sagt Krasko. "Er hat unser Land verteidigt, damit unsere Kinder ein besseres Leben haben. Dafür bin ich dankbar." Sie spüre die Unterstützung und die Solidarität für die Ukraine, die aus dem Ausland kommt. Fast täglich erreichen Waffenlieferungen die Hauptstadt. Aber vor allem sei es wichtig, so Krasko, dass alle einen kühlen Kopf bewahren. Denn der psychologische Druck auf die Bevölkerung sei bereits eines der Mittel, mit dem Russland Krieg gegen die Ukraine Krieg führt.
Politische PR-Maßnahme
Als Reaktion darauf, dass die US-Geheimdienste wiederholt vor einem Angriff Russlands an eben diesem Tag warnten, erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ihn zum "Tag der Einheit". Eine Art politische PR-Maßnahme, sagt Politikwissenschaftler Anatoly Oktisyuk vom ukrainischen Institut für Politik, die dazu beitragen soll, die eigene Gesellschaft zu beruhigen und den politischen Gegner im Land den Wind aus den Flügeln zu nehmen. "Für die ukrainische Regierung ist das ein kleiner Sieg, denn sie setzt damit gerade in diesen angespannten Zeiten, ein friedliches, diplomatisches Zeichen", sagt Oktisyuk. Dass die Ukraine erst am Vortag einen Hackerangriff auf zwei große Banken und auch die Seite des Verteidigungsministeriums war zeitweise nicht mehr zu erreichen.
"Wir sind das schon gewohnt. Und die normalen Menschen bekommen das ohnehin nicht mit", so Oktisyuk. So sei das eben, wenn man einen hybriden Krieg durchmacht. Wenn man neben einem unfreundlichen Nachbarn lebt. Die Ukrainer nehmen die Lage ernst, sie leben aber bereits seit acht Jahren damit, dass Russland im Osten des Landes verdeckt Krieg führt. Ihren Einfallsreichtum und Witz lassen sich viele deshalb trotzdem nicht nehmen. Das bekam auch der Live-Streaming-Dienst der Nachrichtenagentur Reuters auf dem Maidan mit, als kurz nach der Demonstration plötzlich eine Drohne mit dem Schild "Garage zu Verkaufen" und der Telefonnummer der russischen Botschaft in Kiew vorbeiflog.
Überall in der Ukraine befestigen Menschen an diesem Tag Flaggen an den Häusern und Straßenlaternen. In Kiew säumen sie die Pflasterstein-Straßen der Innenstadt, wie für eine Parade. An die Mauer des Bezirksgerichts, das sich neben der prächtige Sophienkathedrale mit ihren sieben goldfarbenen Kuppeln befindet, wird ein haushohes Banner gespannt: Tag der Einheit, steht darauf geschrieben - die ideale Kulisse für die vielen internationalen Fernsehteams, die sich dieser Tage in der ukrainischen Hauptstadt auf die Jagd nach Interviewpartnern begeben. Zwar sprechen manche Beobachter von ersten Zeichen einer Entspannung der Lage. Bisher hat Russland seine Ankündigung, Soldaten von der Grenze zur Ukraine abzuziehen, aber noch nicht umgesetzt. Der US-amerikanische Präsident Joe Biden schätzte die Anzahl an russischen Soldaten auf 150.000. Viele fragen sich, was als nächstes kommt. Und das wird wohl noch für einige Zeit so bleiben. "Wenn wir über die bedrohliche Sicherheitslage sprechen, dann geht es der Ukraine ähnlich wie Israel", sagt Oktisyuk.
"Einheit ist Liebe"
Der russische Präsident spricht indes von einem Genozid an Russen in der Ostukraine und die Staatsduma unterstützt das Vorhaben, die beiden sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk, die unter der Kontrolle von durch Russland unterstützen Separatisten stehen, anzuerkennen. Pässe hat Russland ohnehin schon an viele der dort lebenden Menschen verteilt.
"Wir jungen Menschen haben Verständnis für die schwierige Situation im Osten, aber sie dauert nun schon acht Jahre an. Und es ist klar, dass es zu einer gewissen Eskalation seitens der Russischen Föderation kommen könnte, insbesondere in diesen Tagen", sagt Oleksandr Kramar, 27 Jahre alt, politischer Aktivist. Er kam auf den Maidan, weil er die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung noch nicht verloren hat. "Einheit ist Liebe", steht auf seinem Pappschild.