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Als Aristide Briand die Europäische Union erfand

Von Michael Gehler

Wissen

Vor 90 Jahren, am 17. Mai 1930, präsentierte der französische Staatsmann den Entwurf einer föderativen Union für Europas Einigung - nicht aber Einheit.


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Friedensnobelpreisträger und Europa-Visionär: Aristide Briand (1862-1932).
© Hulton Archive/Getty Images

Nach dem Ersten Weltkrieg mit Millionen Toten und Verwundeten kamen Forderungen nach Sicherung des Friedens und einer organisierten Einigung Europas auf. Neben den Appellen von Richard Coudenhove-Kalergi und seiner 1923 in Wien ins Leben gerufenen Paneuropa-Union sind die Initiativen des französischen Außenministers und zeitweisen Ministerpräsidenten Aristide Briand 1929/30 in Erinnerung zu rufen.

Am 16. Oktober 1925 erfolgte ein Paukenschlag für Europa, als in Locarno am Schweizer Ufer des Lago Maggiore ein Vertrag zwischen dem Deutschen Reich, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und der Tschechoslowakei geschlossen wurde. Er regelte nicht nur den völkerrechtlichen Status Deutschlands, sondern enthielt auch die Versicherung Berlins gegenüber Paris, Brüssel und Luxemburg, die deutschen Westgrenzen nicht gewaltsam zu verändern und an der Entmilitarisierung des linken Rheinufers festzuhalten. Als Garantiemächte fungierten das faschistische Italien mit Benito Mussolini und das britische Empire unter dem konservativen Premier Stanley Baldwin.

Locarno schloss allerdings die Revision des Versailler Vertrages bezüglich der deutschen Ostgrenzen nicht aus, was für die deutsche Zustimmung entscheidend war. Locarno war ein Werk der Staatsmänner Aristide Briand und Gustav Stresemann und ein erstes Anzeichen für eine deutsch-französische Verständigung. Beide erhielten 1926 dafür den Friedensnobelpreis.

Briand und Gustav Stresemann (rechts), der deutsche Reichsminister des Auswärtigen, im Jahr 1926, als beide den Friedensnobelpreis erhielten.
© Dutch National Archives, The Hague

Erste Initiativen

Im Jahre 1925 hatte sich der Radikalsozialist und zuvor noch in Opposition gegen den Bloc national (1920-1924) und die Deutschlandpolitik des Ministerpräsidenten und Außenministers Raymond Poincaré (1922-1924) befindliche, nun als Ministerpräsident amtierende Édouard Herriot (1924-25) nach dem Wahlsieg des Linksbündnisses Cartel des gauches vor der französischen Kammer für ein vereintes Europa ausgesprochen. Am 5. September 1929 nahm der neue Ministerpräsident Aristide Briand, Gründungsmitglied der Parti Républicain Socialiste (PRS), vor der Völkerbundsversammlung in Genf den Faden wieder auf.

In seiner Rede führte er aus: "Ich bin der Auffassung, dass zwischen Völkern, deren geografische Lage so ist, wie die der Völker Europas, eine Art föderatives Band bestehen muss; diese Völker müssen jederzeit die Möglichkeit haben, miteinander in Verbindung zu treten, über ihre Interessen zu beraten, gemeinsame Entschließungen zu fassen, untereinander ein Band der Solidarität zu schaffen, das ihnen erlaubt, zu gegebener Zeit einer ernsten Lage, falls eine solche entsteht, gegenüberzutreten."

Die Idee einer immer engeren Verbindung europäischer Staaten war nicht neu, ein institutionell zweckdienliches und politisch umsetzbares Konzept als Basis hatte aber immer gefehlt. Briands Idee war auch zunächst nur unkonkret. Er appellierte an die 27 europäischen Völkerbund-Mitglieder, bei einer "europäischen Bundesordnung" mitzuwirken. Ihre Abgeordneten baten im Gegenzug um Konkretisierung in einem Memorandum.

Briand schlug am 17. Mai 1930 die "Organisation eines Regimes europäischer föderativer Union" vor. Es war sein Wunsch, dass sich die europäischen Nationen der geographischen Einheit Europas bewusst werden und im Rahmen des Völkerbundes eine regionale Abmachung verwirklichen sollten. Dessen Autorität sollte dadurch nicht geschwächt, sondern gestärkt werden.

Die Hauptbotschaft endete mit einer Frage: "Die Verständigung zwischen europäischen Staaten muss auf dem Boden unbedingter Souveränität und völliger politischer Unabhängigkeit erfolgen. Es wäre übrigens unvorstellbar, im Rahmen einer Organisation, die nach reiflicher Erwägung unter die Aufsicht des Völkerbunds gestellt ist, im geringsten an politische Beherrschung zu denken, denn die beiden Grundprinzipien des Völkerbundes sind gerade die Souveränität der Staaten und die Gleichheit ihrer Rechte. Und kann nicht, wenn die Souveränitätsrechte gewahrt bleiben, jede Nation gerade Gelegenheit finden, sich in der Mitarbeit am gemeinsamen Werk noch bewusster auszuwirken, in einem Bundessystem, das mit der Achtung vor den Überlieferungen und der Eigenart eines jeden Volkes voll vereinbar ist?"

Im Unterschied zu bisherigen Vorschlägen zur Bildung von Zollunionen sollten die Binnenzölle beibehalten werden, was der Politik Vorrang vor der Wirtschaft verschaffen sollte. Ein politischer Rahmen sollte für die Sicherheit der "Europäischen Union" sorgen.

Bewusst war von "union" anstatt von "unité" die Rede, also von "Einigung", nicht aber von "Einheit". Die Einigung betraf allerdings auch nur in ihren souveränen Rechten unbeschränkte europäische Nationalstaaten.

Für die so benannte "Bundesordnung" Europas dachte Briand an folgende Organe: eine "Europäische Konferenz" als leitendes Organ, bestehend aus Repräsentanten der nationalen Regierungen, die Mitglieder des Völkerbundes sein mussten. Hinzu kamen ein Exekutivorgan in der Art eines "Ständigen Politischen Ausschusses" und ein Sekretariat als Verwaltungsstütze.

Und der Völkerbund?

Unklar blieb die Beziehung zum Völkerbund. Briand verwies zwar wiederholt auf die Zusammenarbeit, praktisch liefen seine Ideen aber auf einen europäischen Regionalpakt hinaus, der dem Völkerbund mit unklaren politischen Funktionen als Konkurrenz wohl Probleme bereitet hätte. Briands Vorschlag litt an einer grundsätzlichen Problematik: Auf die zentrale Frage der internationalen Ordnung der Zwischenkriegszeit, "Völkerbund, Europäische Föderation oder Internationales Schiedsgericht?", vermochte er keine überzeugende Antwort zu geben.

Das "Haus des Völkerbundrates" in Genf auf einer Aufnahme von 1931.
© Bundesarchiv CC-BY-SA 3.0

Briand war großzügig, als er Österreich "innige Beziehungen zu Deutschland" zugestand, während das Foreign Office in London die Formel "Ein Volk in zwei Staaten" hinnahm. In seinem Plan erblickte der Ballhausplatz jedoch keinen Vorteil und gab sich in der Antwortnote vom 5. Juli 1930 reserviert: Österreich wolle zwar nicht abseits stehen, wenn sich die Zweckmäßigkeit der Schaffung einer europäischen Union erweisen sollte. Das Außenamt teilte aber die Kritik der Farnesina und der Wilhelmstraße, Briands Idee so zu deuten, "dass sie in Fortsetzung und Konkretisierung der bisherigen französischen Sicherheitspolitik nichts anderes beinhalte als den Wunsch, den territorialen Status quo des Europa von 1919 auf vertragsmäßigem Wege zu verewigen".

Generalsekretär Franz Peter teilte den Gesandten mit, es hieße "einem Staatsmanne von dem Range Briands Unrecht tun, wollte man ihm tatsächlich die ernste Verfolgung einer mit der natürlichen Dynamik des Lebens der europäischen Völker in so hoffnungslosem Gegensatz stehenden Politik zumuten".

Das Bundeskanzleramt versicherte dem besorgten Reichsaußenminister im Juni, dass die alte Formel von Ignaz Seipel, "Keine Kombination ohne Deutschland, jede mögliche Kombination mit Deutschland", selbstverständlich weiterhin aufrechtbleibe und in Österreich keinerlei Aktivität Frankreichs in Richtung einer Donaukonföderation zu spüren sei.

Die Mehrheit der Regierungen Europas äußerte sich zwar grundsätzlich positiv. Bemängelt wurden jedoch die konkreten Vorschläge. London sah in einer europäischen Regionalorganisation eine Beeinträchtigung seiner Beziehungen zum Commonwealth - ein wiederkehrendes Argument - und ortete in Briands Ideen die potenzielle Gefahr einer Abkehr von den USA, wenn nicht einen drohenden Antiamerikanismus. Europäische Interessen sollten im bestehenden Rahmen des Völkerbundes geregelt werden. Italien und Deutschland beanstandeten den Ausschluss der nicht im Völkerbund vertretenen Sowjetunion und Türkei, was als Ausdruck weiterer Desintegration gewertet wurde. Berlin plädierte entgegen der Priorität Briands für eine Kooperation auf privatwirtschaftlicher Basis.

Im September 1930 wurde aufgrund der Kritik mehrerer Mitglieder in der Völkerbundversammlung nur eine "Studienkommission für die Europäische Union" eingesetzt, die keine weiterführenden Resultate hervorbrachte, womit Briands Plan Schiffbruch erlitt. Die Nähe seiner "Europäischen Union" zum Völkerbund war aus Sicht der deutschen Revisionsmacht problematisch. Wie die Reaktionen auf seinen Plan schon zeigten, war für Europas Einigung in den 1930er Jahren das Insistieren auf nationalstaatliche Souveränität ein unüberwindliches Hindernis. Sie ließ kaum Spielraum für eine derartige Union zu.

Verpasste Chance

Der Aufschwung nach Locarno währte nicht lange. Nach dem Tod Stresemanns 1929 lief die Verständigungsphase aus. Für eine "nachhaltige europaorientierte Entwicklung" der Politik der Staaten in den 1930er Jahren wirkte sich nicht nur der Zeitmangel gravierend aus, vor allem fehlte "eine gefestigte Gruppierung politischer und gesellschaftlicher Kräfte für eine langfristige und beharrliche Politik der kleinen Schritte", so der Marburger Historiker Peter Krüger. Die gemäßigt-kooperative Westeuropapolitik Stresemanns konnte aufgrund der harten französischen Reparationspolitik dem massiven revisionistischen Druck und nationalistischem Ressentiment gegenüber Frankreich in Deutschland nicht standhalten.

Der französische Außenminister Robert Schuman im Jahr 1949.
© Bundesarchiv CC-BY-SA 3.0

Briands Memorandum blieb im Zeichen der Weltwirtschaftskrise, des Aufstiegs der NSDAP bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 von 2,6 auf 18,3 Prozent und der Radikalisierung des innenpolitischen Klimas erfolglos. Das deutsch-österreichische Zollunionsprojekt 1931 bereite Briands Europaplan "ein Begräbnis erster Klasse", so der deutsche Außenminister Julius Curtius. Briand war damit innenpolitisch das Genick gebrochen, auch wenn die Zollunion am Widerstand der übrigen Staaten und am knappen Ausgang des Haager Schiedsspruchs (8 zu 7) scheiterte.

Die europäische Einigungspolitik war bereits tot. Die Idee lebte aber weiter und bot einen Bezugspunkt für die Erklärung von Robert Schuman zur Bildung der Montanunion am 9. Mai 1950. Nun sollte die Politik der Wirtschaft folgen und diese den Vorrang behalten.

Michael Gehler, geboren 1962 in Innsbruck, ist Historiker und seit 2006 Professor und Leiter des Instituts für Geschichte an der Universität Hildesheim.