Von der Gläubiger-Verantwortung und der Schuld der Kreditnehmer. Ein Essay.
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Wien. Die Märchen, die seit 2008, dem Jahr der Lehman-Pleite, am liebsten erzählt werden, sind die von Staaten, die immense Schulden angehäuft haben. Es sind Märchen von faulen Südländern und fleißigen Nordländern, von verantwortungsbewussten Nordländern und sorglosen PIIGS - Portugiesen, Italienern, Iren, Griechen, Spaniern.
Das Narrativ ist simpel: Der Süden hat über seine Verhältnisse gelebt, nun muss der Norden Europas die Südländer mit milliardenschweren Hilfspaketen und billigem Geld der Europäischen Zentralbank "retten".
Die Parade-Beispiele sind wohlbekannt: Als Beleg wird mit dem Finger auf Geisterstädte wie das rund 80 Kilometer südlich von Madrid gelegene Seseña gezeigt - oder auf den 150-Millionen-Euro-Geisterflughafen Castellón-Costa Azahar in der Region Valencia, auf dessen Start- und Landepiste seit der Zeit der Flughafen-Fertigstellung im März 2011 noch nie eine einzige Maschine gelandet ist.
Doch so einfach ist es nicht. Fakt ist zwar, dass in den Bubble-Jahren der größten Immobilienblase der Weltgeschichte in den USA und Europa Milliarden in den Bau von Immobilien und Großprojekten gesteckt wurden. Doch der Teil des Märchens, der meist nicht erzählt wird, ist die Geschichte von der Verantwortung von Gläubigern.
Bei der Vergabe eines Kredits trägt nämlich nicht nur der Schuldner Verantwortung dafür, dass er seine aushaftende Schuld zurückzahlen kann, sondern auch der Gläubiger, der überprüfen muss, ob der Kreditnehmer auch über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zur Schuldentilgung verfügt.
Doch in den Jahren der Blase galten in den meisten Banken die Risiko-Abteilungen als schnöde Spielverderber. Banken gaben sorglos Kredit, zum Teil auch, weil neue Finanzprodukte, sogenannte Collateralized Debt Obligations, es ihnen ermöglichten, die Kredite in ein Wertpapierportfolio zu bündeln und an Anleger weiterzuverkaufen.
In den drei Jahren bis Anfang 2008 wurden allein in Spanien rund 322 Milliarden Euro neue Schulden bei deutschen und französischen Kreditgebern gemacht, wobei das meiste davon in Immobilien investiert wurde.
"Sie schwammen im Geld"
Der ehemalige Präsident der "Caja Granada", Juan Rodriguez, erzählte in der kürzlich auf "Arte" ausgestrahlten TV-Dokumentation "Staatsgeheimnis Bankenrettung" dem deutschen "Tagesspiegel"-Journalisten Harald Schumann: "Ich war als Sparkassenpräsident 2001 und 2002 in Deutschland, um dort Geld zu beschaffen. Die deutschen Banken schwammen nur so im Geld." Schnitt.
Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble kontert in der Doku-Sendung: "Aber wir haben ihn nicht mit Waffengewalt nach Deutschland geholt und ihm das Geld aufgenötigt. Mir gehen die Diskussionen manchmal auf den Geist."
Tatsächlich: Rodriguez wurde wohl nicht mit Waffengewalt nach Deutschland gezwungen. Die wahre Geschichte ist viel weniger spektakulär: Mit dem Start des Euro glichen sich in den Euro-Staaten die Kreditzinsen stark an. Für die Kreditnehmer von Ländern, die bisher an hohe Kreditzinsen gewöhnt waren, muss sich diese Ära angefühlt haben, als stünden sie plötzlich unter einer Gelddusche. Kapital war billig und es gab genug davon. Monströse Summen gingen nicht nur nach Spanien und die restlichen PIIGS-Länder, sondern ins Baltikum und nach Ost- und Südosteuropa.
Dann kam 2008 die Krise und die Party war vorbei. Schuldner in den Peripherie-Ländern konnten ihre Kredite nicht mehr bedienen, die lokalen Banken, die die Gelder verliehen hatten, kamen ins Trudeln und die Institute in den Gläubigerländern, die den Banken in den Peripherieländern die Kreditlinien eingeräumt hatten, kamen ins Schwitzen.
Der Rettungsplan
Was nun kam, war das bisher gewaltigste Experiment der Wirtschaftsgeschichte im Geldrecycling. Der Plan: Die Banken in den Krisenländern der europäischen Peripherie sollten von den Staaten, in denen sie ihren Sitz haben, gerettet werden. Und zwar deshalb, damit sie in die Lage versetzt werden, die Kredite, die ihnen die Gläubigerbanken in Zentraleuropa gewährt hatten, weiterhin zu bedienen. Somit wird ein Kollaps der Banken in den Krisenländern verhindert - und damit auch der Kollaps der Gläubigerbanken in Kerneuropa. Das europäische Bankensystem ist gerettet, die Kernschmelze im europäischen Finanzsystem verhindert. So geschah es: Der Internationale Währungsfonds ging gemeinsam mit der Europäischen Zentralbank (EZB) und der EFSF (European Financial Stability Facility, heute ESM) ans Werk. Die Folge: "Genau wie in den USA wurden die Schulden der hochverschuldeten Finanz-Institutionen die öffentlichen Schulden von Staaten", wie der britische Ökonom Mark Blyth in seinem Buch "Austerity - the History of a dangerous Idea" schreibt.
Die Frage der Verantwortung
Der Kolumnist der "Financial Times", Martin Wolf, meinte in einem Gespräch mit der "Wiener Zeitung" am Rande des "FT Business of Luxury Summit" im Gartenpalais Liechtenstein, dass es zu diesem an sich bedauerlichen Schritt damals keine Alternative gegeben habe: "Hätte man damals den Banken nicht geholfen, dann wären viele kollabiert, hätten ihre Pforten geschlossen und einige Länder wären nicht nur in die Depression gestürzt, so wie wir das jetzt erleben, sondern in eine wirklich tiefe, tiefe Depression. Die öffentlichen Budgets dieser Länder wären explodiert und einige der Krisenländer hätten wohl den Euro verlassen müssen."
Diese Hilfen hätten den Absturz des Finanzsystems lange genug abgebremst, bis Lösungsansätze gefunden werden konnten.
Daraus ergibt sich aber: Es wurde nicht Griechenland gerettet, Irland oder ein anderes Krisenland, sondern vorrangig die Gläubigerbanken in den Ländern Kerneuropas aufgefangen, die sorglos jene Kredite vergeben hatten, die in den Peripherieländern in irrwitzige Immobilienprojekte geflossen waren.
Die Schuldigen sitzen nicht nur in Athen, Madrid oder in Dublin, sondern in Frankfurt, Paris und der Londoner City.
Die Aufräumarbeit ist aber den europäischen Regierungen, multilateralen Finanzinstitutionen und der Europäischen Zentralbank zugefallen. Und die Rechnung? Zahlen die europäischen Steuerzahler, denen man weiter Märchen vom vorsichtigen Norden und dem verantwortungslosen Süden erzählt.
(hes) Das Platzen der Blase am US-Häusermarkt trifft als Erstes den Hypothekenfinanzierer New Century Financial: Er meldet im Februar 2007 Insolvenz an.
Juni 2007: Zwei Hedgefonds der US-Investmentbank Bear Stearns straucheln.
August 2007: In Deutschland geraten erste Banken in die Bredouille: die Mittelstandsbank IKB und die Sachsen Landesbank, die WestLB und Hypo-Kärnten-Mutter BayernLB.
September 2007: Kunden stürmen die Schalter der britischen Northern Rock. Sie wird verstaatlicht.
März 2008: JPMorgan Chase übernimmt und rettet so die Investmentbank Bear Stearns – mit Hilfe der US-Notenbank.
6. September 2008: Washington übernimmt die Kontrolle bei den Immo-Finanzierern Fannie Mae und Freddie Mac.
15. September 2008:Lehman Brothers meldet Insolvenz an, die Bank of America kauft die strauchelnde Merrill Lynch.
17. September 2008: Die US-Notenbank rettet den Versicherungsgiganten AIG mit einem Kredit von 85 Milliarden Dollar.
30. September 2008: Irlands Regierung bürgt mit bis zu 400 Milliarden Steuergeld für die Einlagen der 6 größten Banken.
September/Oktober 2008: Berlin übernimmt schrittweise den Immobilien- und Staatsfinanzierer Hypo Real Estate.
Oktober 2008: Berlin garantiert alle privaten Spareinlagen im Wert von 568 Milliarden Euro, schnürt ein 500-Milliarden-Hilfspaket. Österreichs Bankenpaket umfasst 100 Milliarden Euro. In Wien wird die Constantia Privatbank aufgefangen. Island verstaatlicht Kaupthing, Landsbanki und Glitnir.
November 2008: Kommunalkredit wird notverstaatlicht.
14. Dezember 2009: Finanzminister Josef Pröll verkündet die Notverstaatlichung der Hypo Alpe Adria.
November 2010: Irland bittet den Euroschirm um Hilfe. Die Kosten zur Rettung von Anglo Irish, Allied Irish und Bank of Ireland waren explodiert.
Oktober 2011: Frankreich und Belgien fangen die in Griechenland exponierte Dexia auf.
April 2012: Österreich rettet die Volksbanken AG (ÖVAG) durch Teilverstaatlichung.
Mai 2012: Madrid verstaatlicht das viertgrößte Geldhaus Bankia, beantragt im Juni 40 Milliarden ESM-Bankenhilfe.
März 2013: Zyperns größte Institute Bank of Cyprus und Laiki (Popular) Bank werden restrukturiert und abgewickelt. Erstmals werden Gläubiger und Anleger zur Kasse gebeten.