Vor dem Nationalsozialismus lebten 200.000 Juden in Wien.
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Wien. "Ich bin bis zur Ecke Leopoldsgasse/Malzgasse gekommen. Und jetzt hörte ich selber das schreckliche Getöse, mit dem unsere Schule zerstört worden ist. Die Lehrer waren zusammengeschlagen worden, und der Direktor Joel Pollak lag in seinem Blut. Sie hatten ihm ins Gesicht getreten, und sein Nasenbein gebrochen, und er war besinnungslos", erinnert sich Arno Getreider an die Ereignisse im Jahr 1938, als er am 9. und 10. November Zeuge wurde, wie jüdische Kultur zerstört und jüdische Wiener misshandelt wurden. 75 Jahre später blickt nun die Straßenausstellung "Zerstörte Kultur" auf das damalige Novemberpogrom (auch bekannt als Reichskristallnacht) und die Zeit des Nationalsozialismus in Wien zurück. Gezeigt wird die Ausstellung von der Gebietsbetreuung im 2. und 20. Bezirk.
Vor 15 ehemaligen Gebäuden und Orten des jüdischen Lebens werden mobile Litfaßsäulen aufgestellt, auf denen plakatgroße Fotos samt Info-Text die alten Gebäude vor und nach ihrer Zerstörung zeigen werden. Die Ausstellung, für die es kostenlose Führungen geben wird, wird heute, Donnerstag, um 17 Uhr in der Tempelgasse 3-5 eröffnet und endet mit 11. November. Die Tour führt durch die früher als Mazzesinsel (Mazze: Brot, das zu Pessach gegessen wird) bekannte Leopoldstadt, ein Bezirk, der als Zentrum jüdischer Kultur in Wien und Österreich galt. In der Zeit des nationalsozialistischen Regimes von 1938 bis 1945 wurde diesem Zentrum ein jähes Ende bereitet. Bereits ab dem ersten Tag der faschistischen Herrschaft war die jüdische Bevölkerung Opfer von Gewalt. Wie sich Zeitzeugen erinnern, seien viele der Peiniger keine Mitglieder der Nationalsozialisten gewesen. Über die Stunden nach der Übernahme des Regimes in Österreich erzählt etwa Benno Kern: "Binnen einer Stunde waren die Straßen voll mit Hitlerjugend und Erwachsenen, zum Teil in SA-Uniformen. Die Polizei selbst hat auch schon Hakenkreuzbinden gehabt."
Johlende Zuschauer beim Gehsteigputzen
Das Gehsteigputzen mit Zahnbürsten wurde bald zu einer der größten "Volksbelustigungen" in Wien. Der Zeitzeuge Otto Vogel dazu: "Die Leute wurden aus den Wohnungen getrieben und haben die Straße reiben müssen. Jeder hat sich belustigt, wenn da 20, 30 oder 40 auf dem Marktplatz gewaschen haben. Die Zuschauer haben gejohlt, und hingetreten und haben einem auch noch den Kübel Wasser raufgeschüttet." An die sogenannten Reibpartien wird die Straßenausstellung am Praterstern erinnern.
Neben der öffentlichen Peinigung war die jüdische Bevölkerung auch Ziel zahlloser Plünderungen und Enteignungen. Eines der ersten Kaffeehäuser, das davon betroffen war, war das Café Rembrandt in der Unteren Augartenstraße 11. Nachdem es zunächst beschmiert und somit als jüdischer Besitz gekennzeichnet wurde, durften Menschen anderer oder ohne Religionszugehörigkeit nicht mehr das Kaffeehaus besuchen. Bald darauf wurden die Besitzer enteignet.
Nur wenige Wochen nach der Eingliederung Österreichs in das Dritte Reich wurde im Propagandasprachrohr des NS-Regimes, dem "Völkischen Beobachter", den Juden in Wien eine dunkle Zukunft prophezeit: "Bis zum Jahr 1942 muss das jüdische Element in Wien ausgemerzt und zum Verschwinden gebracht sein. Kein Geschäft, kein Betrieb darf zu diesem Zeitpunkt mehr jüdisch geführt sein, kein Jude darf irgendwo noch Gelegenheit zum Verdienen haben, und mit Ausnahme der Straßenzüge, in denen die alten Juden und Jüdinnen ihr Geld - dessen Ausfuhr unterbunden ist - verbrauchen und aufs Sterben warten, darf im Stadtbild nichts davon zu merken sein."
Brennende Synagogen und zerstörte Kultur
Ein halbes Jahr später wurde im Novemberpogrom der Großteil der baulichen Kultur des Judentums in Wien zerstört. Darunter etwa der Pazmanitentempel, eine Synagoge für knapp 1000 Menschen, die Synagoge Schiffschul in der Großen Schiffgasse 8, der Polnische Tempel in der Leopoldsgasse 29, der Türkische Tempel in der Zirkusgasse 22 und der Leopoldstädter Tempel in der Tempelgasse 3-5, mit 2000 Sitzplätzen die damals größte Synagoge Wiens.
Ein weiterer Ort der Straßenausstellung ist das Schulgebäude in der Castellezgasse 35. Nachdem jüdische Kinder nicht mehr unterrichtet werden durften, wurde die jüdische Schule als "Sammellager" für verbliebene jüdische Wiener genutzt, die danach in die Vernichtungslager gebracht wurden.
Von den 200.000 Wiener Juden wurden in der NS-Zeit 65.000 ermordet, während der Rest fliehen konnte. Die Mitverantwortung am Nationalsozialismus wurde in Österreich lange zurückgewiesen. Exemplarisch dafür eine Äußerung des ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik Karl Renner (SPÖ) zur Problematik jüdischer Flüchtlinge: "Sicherlich würden es wir nicht zulassen, dass eine neue jüdische Gemeinde aus Osteuropa hierher käme und sich hier etablierte, während unsere Leute Arbeit brauchen."
Erst in den 1980er und 1990er Jahren kam es zu ernsthaften Ansätzen, sich einem der dunkelsten Kapitel der österreichischen Geschichte zu stellen.
Kostenlose Führungen mit dem Historiker Walter Juraschek finden am Sonntag, 27. 10., von 11 bis 13 Uhr bzw. an den Sonntagen, 3. 11 und 10. 11, jeweils von 14 bis 16 Uhr statt. Treffpunkt für die Führungen ist in der Tempelgasse 3-5.
Mehr zum Thema im "Wiener Journal" am 8. November