Vor 40 Jahren wurde in Polen das Kriegsrecht ausgerufen. Doch zeigte es die Schwäche des kommunistischen Regimes.
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Bitterkalt war es an jenem Sonntagmorgen. Die ersten Dezembertage waren noch mild gewesen, doch dann legte sich eine Kaltfront über das Land. Schnee lag nicht nur auf den Bergen und im raueren Osten, sondern auch in der Hauptstadt. Eine einige Zentimeter dünne weiße Decke bedeckte die Straßen. Die Panzer und schweren Polizeifahrzeuge stampften sie zu dreckigem Matsch. Als die Menschen an diesem Morgen des 13. Dezember vor ihre Haustüren traten, war ihnen die beklemmende Kälte nicht nur in die Knochen gekrochen, sondern auch in die Herzen.
In Polen herrschte das Kriegsrecht. Dessen Verhängung hatte General Wojciech Jaruzelski am 13. Dezember 1981 in der Früh verkündet, zunächst im Radio, danach in einer Fernsehansprache. Zehntausende Soldaten, Polizisten und Geheimdienstler waren da schon in Bereitschaft versetzt und etliche Oppositionelle verhaftet.
Die Erinnerung an die eisige Luft, die Beklemmung und die bleierne Stimme des Generals zieht sich durch viele Erzählungen über die Ausrufung des Kriegsrechts. Auch meine Eltern erwähnen das, wenn sie davon sprechen. Wir waren gerade nach Österreich gekommen, ich, kleines Kind, freute mich schon auf den Weihnachtsbesuch bei den Großeltern, Tanten und Cousinen in Polen. Doch mit Tränen in den Augen teilte mir meine Mutter mit, dass daraus nichts wird. Was denn los sei, wollte ich wissen, an dem Tag und in den folgenden Tagen. Meine Eltern konnten es mir nicht sagen. Sie konnten ihre Eltern und Geschwister nicht erreichen, die Telefone schwiegen. Die Grenzen waren geschlossen. Meine Eltern schickten ein Telegramm, dass sie über Weihnachten nicht kommen könnten. Es kam Ende Jänner an. Die Unruhe, was mit Familie und Freunden passiert, konnte niemand stillen.
Solidarnosc im Aufwind
Die Aufarbeitung und Bewertung der Geschehnisse durch Wissenschafter, aber auch Verantwortliche nahmen Jahrzehnte in Anspruch - und haben bis heute Einfluss auf die polnische Politik.
Damals, Ende 1981, schien Polen jedoch noch fest verankert im Geflecht der kommunistischen Bruderstaaten rund um die Sowjetunion, auch wenn sein System offiziell sozialistisch und nicht die kommunistische Partei, sondern die Vereinigte Arbeiterpartei federführend war. Deren Spitze bildete das Zentralkomitee, und erster Generalsekretär war Jaruzelski. Bei späteren Prozessen verteidigte er das Kriegsrecht bis zuletzt mit dem Argument, er hätte einen Einmarsch der Sowjettruppen abwenden wollen.
Tatsächlich wurden die Ereignisse im Nachbarland in Moskau seit Monaten misstrauisch beäugt. Im August 1980 hatte sich die Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc ihre eigene Legalisierung und etliche weitere Arbeitnehmerrechte erstritten und erstreikt. Die Forderungen umfassten aber nicht nur angemessene Entlohnung und würdige Arbeitsbedingungen, sondern auch wirtschaftliche und soziale Reformen sowie Presse- und Meinungsfreiheit. Beinahe untragbar für ein kommunistisches Regime, das die Bevölkerung gängelte, die Opposition in den Untergrund drängte und ins Gefängnis warf, Zensur und Propaganda übte. Dennoch kam es zu einer Übereinkunft.
Denn in der Gesellschaft brodelte es. Streiks waren an der Tagesordnung, die Menschen zogen die von den Machthabern gepredigte Überlegenheit des Kommunismus vor dem Kapitalismus in Zweifel. Lebensmittel waren reglementiert, ihre Preise stiegen teils sprunghaft an, obwohl sie gesetzlich festgelegt sein sollten.
Lebensmittel auf Karten
Aber auch nach der Legalisierung von Solidarnosc rissen die Proteste nicht ab. Denn die wirtschaftliche Lage verbesserte sich nicht. Das Nationaleinkommen sackte ab, für mehrere Monate wurden sogar Lebensmittelkarten eingeführt: Nur mit ihnen waren Fleisch, Butter, Mehl zu erwerben. Vor den Geschäften bildeten sich lange Menschenschlangen, sobald irgendeine, egal welche Ware geliefert wurde. Wir Kinder wurden oft vorgeschickt, um einen Platz in der Schlange zu reservieren.
Versorgungsengpässe und Unruhen lieferten Jaruzelski das offizielle Argument für die Ausrufung des Kriegszustands. Als einen der tatsächlichen Gründe sehen einige Historiker aber die Angst des Regimes vor Macht- und Kontrollverlust an. Beweise für Truppenbewegungen Richtung Polen in diesen Tagen finden sich hingegen nicht.
In seiner Rede am 13. Dezember sprach Jaruzelski nicht davon. "Unsere Heimat ist an einen Abgrund gelangt", erklärte er. Die Situation könnte in einer Katastrophe münden, die Menschen in "Elend und Hunger" stürzen. Daher sei um Mitternacht das Kriegsrecht verhängt worden.
Auch wenn es sich um keinen Militärputsch handelte, übernahm der verfassungswidrig gegründete "Militärrat der Nationalen Errettung" - mit Jaruzelski an der Spitze - das Kommando. Solidarnosc wurde verboten, tausende ihrer Mitglieder wurden festgenommen und interniert, darunter der zur Führungsriege gehörende spätere Friedensnobelpreisträger und Staatspräsident Lech Walesa. Insgesamt wurden an die 10.000 Regimegegner verhaftet. Streiks und Versammlungen waren nicht mehr erlaubt. Schulen und Universitäten wurden geschlossen, Telefonleitungen gekappt. Es galten nächtliche Ausgangssperren; die Polizeistunde begann zunächst um 19, dann um 22 Uhr. In den folgenden Tagen knüppelten Einheiten der Spezialmiliz Zomo Proteste und Streiks nieder, unter anderem in der Werft in Danzig und in Bergwerken in Schlesien. In Kattowitz wurden bei der "Befriedung" neun Bergleute erschossen. Dutzende weitere Todesopfer sollte es bis zum Ende des Kriegszustands geben, die meisten bei Streiks oder Kundgebungen erschossen, zu Tode geprügelt.
Weg zum runden Tisch
Bis Jahresende waren die Proteste niedergeschlagen, im Jänner und Februar 1982 nahmen Schulen und Universitäten ihren Betrieb wieder auf, Ende März läuteten wieder Telefone. Massenentlassungen wurden aber fortgesetzt, Journalisten- und Künstlerverbände aufgelöst. Am letzten Tag des Jahres wurde das Kriegsrecht suspendiert, am 22. Juli 1983 aufgehoben. Doch das Regime klammerte sich noch an seine Macht.
Aber wir konnten wieder nach Polen fahren. Vorbei an grauen Wohnblöcken in tristen Städten, das Auto beladen mit Schokolade und Kaffee, waren wir unterwegs zu unserer Familie.
In diesen Jahren zwangen Repressionen, politische Knebelung, materielle Unsicherheit tausende Intellektuelle, Wissenschafter, Ingenieure, Ärzte in die Emigration. Gleichzeitig erschienen in Polen wieder im Untergrund oppositionelle Publikationen, politische Gefangene wurden freigelassen. 1983 besuchte Papst Johannes Paul II. seine Heimat; die Messen wurden zu Großkundgebungen.
Das sozialistische System bröckelte; der Ruf der Menschen nach Freiheit wurde immer lauter. Es dauerte nur wenige Jahre, bis der Grundstein für die demokratischen Umwälzungen gelegt wurde. Am 6. Februar 1989 begannen in Warschau die Verhandlungen am runden Tisch, an denen Parteifunktionäre und Solidarnosc-Mitglieder teilnahmen. Jaruzelski war nicht dabei. Er wurde aber der erste Präsident der neuen Republik Polen. 1990 löste ihn Gewerkschaftsführer Walesa ab.