Zum Hauptinhalt springen

Als die Tiere den Wald verließen

Von Matthias Winterer

Wald
Für Füchse ist die Stadt ein endloses Buffet.
© Wiener Wildnis

In der Fauna herrscht Landflucht. Die Wildtiere kommen nach Wien. Wald und Wiese verlieren an Attraktivität.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Der Keiler wirft einen gedrungenen Schatten über das Kopfsteinpflaster. Er torkelt durch die Grinzinger Nacht. Vorbei an geschlossenen Heurigen. Im Garten einer Gründerzeitvilla lässt er seinen massiven Körper in ein Blumenbeet fallen. Die Atemzüge sind schwer. Die Beine auch. Das Wildschwein ist besoffen. Es hat vergorene Äpfel gefressen. Seit die Streuobstwiesen am Stadtrand den Spekulanten gehören, bleibt das Obst liegen und lockt Wildschweine an. Übermutig wanken sie in die Stadt.

Die Wildtiere kommen nach Wien. Immer öfter und immer mehr. Eine Füchsin stiehlt dutzende Turnschuhe in Liesing. Ein Ziesel spaziert über die Landstraßer Hauptstraße. Eine Biberfamilie besetzt ein Haus in Penzing. In der Fauna herrscht Landflucht. Die Tiere verlassen den Wald. Die Gründe dafür sind vielfältig. Doch sie haben eines gemeinsam. Sie haben mit uns Menschen zu tun. Die Geschichte vom betrunkenen Wildschwein ist dafür bezeichnend. Sie erzählt von der Verschränkung von Kultur und Natur. Und von den Auswirkungen der neuen Urbanisierung auf Feldhase, Dachs und Damhirsch.

In Wien wohnten am 1. Jänner 2020 exakt 1.911.191 Menschen. Das weiß man aufgrund von Meldedaten. Wie viele Wildtiere es in Wien gibt, weiß hingegen niemand. Auch welche Arten hier leben, ist unbekannt. Es gibt kein Register. Wildtiere kommen still und leise. Sie sind scheu, viele nachtaktiv, sie leben versteckt. Das Projekt "Stadtwildtiere" der Veterinärmedizinischen Uni Wien (Vetmeduni) erfasst seit 2015 Sichtungen von Wildtieren in Wien. Es will Licht ins Dunkel der urbanen Fauna bringen. Beteiligen können sich alle Bürger. "Mit Hilfe der Bevölkerung wollen wir ein möglichst vollständiges Bild zu Vorkommen und Verbreitung von Wildtieren im Siedlungsraum erhalten", sagt Richard Zink. Der Wildtierökologe ist Initiator des Projekts. Im Jänner wurde die 11.000 Beobachtung auf der Website eingetragen.

Dachse polarisieren. Manche finden sie süß, andere beschweren sich über untertunnelte Gartenhütten.
© Wiener Wildnis

Davon auf die Anzahl von Wildtieren in Wien zu schließen, ist trotzdem nicht möglich. "Es wäre unseriös, Zahlen zu nennen", sagt Zink. Unumstritten ist, dass der Großteil der Wiener Wildtiere - abgesehen von den Insekten - Vögel sind. Der Mauersegler ist hier genauso heimisch wie Graureiher, Amsel, Mehlschwalbe und Buntspecht. Greifvögel wie Sperber, Wander- und Turmfalken gibt es in Wien auch. Schwäne, Stockenten, Krähen sowieso. Auch Amphibien und Reptilien kreuchen über den Boden der Hauptstadt - von der Ringelnatter über den Bergmolch zum Laubfrosch.

Schrumpfender Lebensraum

Die aufsehenerregendsten Wildtiere der Stadt sind aber die Säugetiere. Tauchen sie auf, schaffen sie es in Nachrichtensendungen. Sie füllen die Seiten des Boulevards. Die Berichterstattung schlägt in alle Richtungen aus. Von vermeintlichen Wildschweinplagen wird hier genauso berichtet wie vom angefahrenen Rehkitz. In Wien sollen hunderte Füchse, Steinmarder, Biber, Dachse leben. Die Zahlen sind ohne Gewähr. Die Dunkelziffer könnte bedeutend höher sein und in die Tausende gehen. Nur in einem sind sich die Experten sicher - die Tier werden mehr.

"Alleine im Wiener Tierschutzhaus in Vösendorf wurden im Vorjahr 3.500 Wildtiere betreut", sagt Madeleine Petrovic, Präsidentin des Vereins Tierschutz Austria, der das größte Tierheim des Landes betreibt. Die Stadt Wien hat vor zwei Jahren sogar ein Wildtierservice eingerichtet. "Sind Wildtiere in Gefahr oder gefährden sie Menschen, können Bürger anrufen und wir rücken aus", sagt der Wiener Forstdirektor Andreas Januskovecz. Auch die Sichtungen einiger Wildtierarten innerhalb der Wiener Stadtgrenze nehmen seit Jahren zu. "Die Dichte mancher Säugetiere ist in der Stadt höher als am Land", sagt Zink.

Was aber bewegt die Tiere dazu, in die Stadt zu kommen? Sie könnten doch zwischen Bach und Baum ein unbeschwertes Leben im Wienerwald führen. Die Antwort auf diese Frage ist so einfach wie komplex gleichermaßen: Die Stadt ist für manche Wildtiere zum attraktiven Habitat geworden. Komplex ist daran das Warum. Die Attraktivität von Orten verändert sich mit ihren verfügbaren Alternativen. Während sich die Bedingungen der Großstadt zugunsten von Wildtieren gewandelt haben, verhält es sich mit den Bedingungen am Land genau umgekehrt. Sie sind schlechter geworden. Woran wiederum auch die Stadt Schuld trägt.

Die Urbanisierung nimmt zu. Laut einer Studie der Vereinten Nationen lebten 2018 weltweit 55 Prozent der Menschen in Städten. Bis 2050 sollen es knapp 70 Prozent sein. Auch in Österreich erreichte der sogenannte Verstädterungsgrad bei seiner letzten Erhebung im Jahr 2019 mit 58,5 Prozent einen Höchststand. Die Bevölkerungszahl von Wien ist in den vergangenen 30 Jahren um 400.000 gestiegen. Mehr Menschen brauchen mehr Wohnraum. Am Stadtrand werden Wiesen und Felder in Bauland umgewidmet. Auch der Speckgürtel muss weiter geschnallt werden. In manchen Gemeinden im Wiener Umland ist die Bevölkerung laut Statistik Austria in den vergangenen zehn Jahren um 20 Prozent gewachsen. In der Gemeinde Gießhübl hat sie sich seit den 70er-Jahren sogar verdoppelt. Wo früher Wiesenblumen blühten, stehen heute Thujenhecken vor den englischen Gärten der Häuser. Wo sich Fuchs und Eule gute Nacht sagten, erstreckt sich der Einfamilienhausteppich. Und wo noch Platz für Tiere wäre, gibt es kein Fressen.

Ein Steinmarder lungert in einem Vorgarten herum.
© Wiener Wildnis

Stickstoff und Phosphor sind Grundnährstoffe. Sie kurbeln das Leben an. Doch die Sache ist paradox. Sind sie im Überfluss vorhanden, schaden sie der Artenvielfalt. "Zu viele Nährstoffe mindern die Biodiversität. Einige Arten werden dominant und verdrängt die anderen", sagt Zink. Auf mageren Trockenwiesen ist die Biodiversität groß. Wiesensalbei, Schafgarben, Nelken, Adonisröschen, Küchenschelle, Orchideen, Margeriten blühen nebeneinander. Wird die Wiese gedüngt und mit Nährstoffen angereichert, kommt es zur Artenverarmung. Löwenzahn oder Sauerampfer setzt sich durch. Die anderen Blumen verschwinden. In der Folge finden Tiere nicht mehr ausreichend Nahrung. "In Österreich gibt es vielerorts ein massives Überangebot an Nährstoffen", sagt Zink. Felder, Wiesen - aber auch Gärten - sind überdüngt. Besonders am agrarisch geprägten Land. Der Lebensraum der Tiere schwindet. Unüberwindbare Hürden wie Autobahnen und Bahnstrecken verkleinern ihren Aktionsradius nochmals. Die Nahrungskrise spitzt sich zu. Den Tieren geht am Land schlicht und einfach das Land aus.

Ein üppiges Nahrungsangebot zieht viele Tiere nach Wien. Die Stadt ist ein unerschöpflicher Futterquell. Essensreste im Mistkübel. Katzenfutter am Balkon. Ein halber Kebap am Gehsteig. Beeren im Kleingarten. Ein unendliches All-You-Can-Eat-Buffet. Die neuen Zuzügler treten dabei einen Dominoeffekt los. Tauben, Ratten, Mäuse gedeihen großartig und werden zu Futter für Fuchs und Marder.

Urbane Generalisten

In der Stadt fühlen sich vor allem die sogenannten Generalisten wohl. Als Generalisten werden Tiere bezeichnet, die keine speziellen Lebensräume und Nahrungsangebote brauchen um überleben und sich fortpflanzen zu können. Krähen, Dachse, Füchse, Marder sind Generalisten. Sie fressen Obst genauso wie Fleisch. Sie sind Kulturfolger. Die Stadt ist ihr Refugium geworden. In Wien breiten sie sich rasant aus. "Natürlich auf Kosten von Spezialisten wie Insekten, Singvogelarten oder dem Igel", sagt Zink. Auch die Erhitzung der Städte hat sich für viele Tiere als Vorteil erwiesen. Die Temperaturen zwischen Stadtrand und Zentrum schwanken stark, oft bis zu zehn Grad. Säugetiere profitieren von einigen Grad mehr insbesondere im Winter. Das künstliche Licht tut ihr Übriges. "Manche Vogelarten fangen früher am Tag zu singen an und brüten früher im Jahr", sagt Zink. Im Lichtkegel einer Straßenlaterne an der Alten Donau tanzt ein Schwarm Mücken. Ein gefundenes Fressen für Fledermäuse.

Die Beliebtheit der Stadt im Tierreich lässt sich auf die Quintessenz herunterbrechen: Die Stadt ist vielfältig, das Land wird monotoner. Städte sind abwechslungsreich. Es gibt Flüsse und Teiche genauso wie Wiesen, Parks, Wälder und Häuser. Das große Angebot steigert die Artenvielfalt. Im Stuck eines Gründerzeithauses nisten Schwalben. Am Wienfluss haben sich Fischotter angesiedelt. Am Donaukanal plantschen die Biber. Im Prater staksen Rehe durch den Wald. "Am Meidlinger Friedhof lebt eine große Population von Feldhamstern, einer hochgradig gefährdeten Art", sagt Zink. "Nun ist die Stadtplanung gefragt, die Lebensräume miteinander zu verbinden. "Auf Inseln entsteht rasch das Problem genetischer Verarmung", sagt Zink. Grünkorridore, Tunnel, aber auch Seile über Straßen könnten helfen, das zu verhindern.

Wie sich die Dominanz einer Art auf die Vielfalt der Fauna auswirkt, zeigt das Beispiel Lainzer Tiergarten. Über Jahrzehnte lebten hier überproportional viele Wildschweine. In den vergangenen Jahren wurde ihr Bestand drastisch reduziert. Seither nimmt die Zahl an Eidechsen, Hasen, Mäusen wieder zu. "Das hat auch den mäusefressenden Habichtskauz zur Rückkehr bewegt", sagt Zink.

Auch bei sehr hohen Dichten kippt das System leicht. Wildschweine gibt es zum Saufüttern. Sie leben im Wienerwald, in der Lobau, sogar auf der Donauinsel. Obelix könnte erblassen. "Auch heuer dürfte es wieder ein starkes Jahr für Mäuse, Füchse und Wildschweine werden", prophezeit Zink. Den Grund dafür findet man im vergangenen Herbst. Denn da trugen die Eichen und Rotbuchen sehr viele Samen - Eicheln und Bucheckern. Die Wildschweine hatten über den Winter extrem viel zu fressen, sie waren gut genährt, was wiederum viele Frischlinge bedeutet.

Vom Überangebot an Eicheln und Bucheckern profitieren aber auch andere Tiere. Die Samen sind eine Triebfeder und befeuern die Nahrungskette. Mäuse fressen Eicheln. Füchse fressen Mäuse. Genauso wie Marder, und Eulen. In Wien dürfte also auch heuer die Anzahl dieser Arten zunehmen.

Umstrittene Jagd

Die Stadt Wien begegnet den wachsenden Populationen mit Jagd - vor allem auf Wildschweine. Im Siedlungsgebiet, wo das aufgrund von Passanten und Spaziergängern nicht möglich ist, werden die Schweine auch gefangen. Zum Einsatz kommen Lebendfallen, etwa beim Biberhaufenweg in der Lobau. "Pro Jahr fangen wir um die 40 Stück", sagt Forstdirektor Januskovecz. Im Wienerwald werden sie hingegen geschossen. Eine Methode, die der Verein Tierschutz Austria ablehnt. "Die Tiere zu töten kann nicht die Lösung sein", sagt Petrovic. "So paradox es klingen mag: Je mehr Jagd auf Wildschweine gemacht wird, umso stärker vermehren sie sich. Auf diesen Zusammenhang weisen nicht nur immer mehr Wissenschaftler, sondern auch eine Langzeitstudie aus Frankreich hin. Der intensive Jagddruck führt also zu einer deutlich höheren Fortpflanzung, stimuliert die Fruchtbarkeit und sorgt außerdem für eine beschleunigte Ausbreitung von Krankheiten." Petrovic plädiert für ein Wildtiermanagement, das die gesamte Ostregion miteinschließt. Versuche in der Schweiz würden zeigen, dass es zu keiner Überpopulation kommt, wenn die Tiere genug Platz hätten.

Für Januskovecz ist die saubere Jagd die einzige Möglichkeit, den Bestand zu dezimieren und so für ein Gleichgewicht zwischen den Arten zu sorgen. "In Wien dient die Jagd der Erhaltung eines ausgewogenen Wildbestandes und nicht dem Hobby", sagt er. "Uns ist bewusst, dass wir damit in die Fauna eingreifen, deshalb ist die Jagd auch wissenschaftlich begleitet. Andere Möglichkeiten, wie Verhütungsmethoden für Wildschweine, haben wir geprüft. Sie erzielen aber nicht die gewünschte Wirkung." Dass es in Wien zu viele Schweine auf zu engem Raum gibt, darüber sind sich Januskovecz und Petrovic aber einig. Mensch und Tier leben nicht immer in Symbiose. Säugetiere polarisieren. Die einen finden sie süß, die anderen lästig bis gefährlich. Die Beschwerdelisten sind lang. Nicht nur das Wildschwein im Blumenbeet sorgt für Unmut. "Die Klagen reichen vom Specht, der das Styropor aus der Außendämmung hackt, über Dachse, die Gartenhütten untertunneln, bis zur Angst vor der Übertragung von Krankheiten durch Ratten", sagt Evelyn Moser-Gattringer, Obfrau des Vereins Wildtierhilfen in Wien.

Tatsächlich steigt mit der Nähe zu Wildtieren auch die Gefahr von Zoonosen - von Tier auf Mensch übertragbare Krankheiten wie etwa Covid-19. In Wien ist sie allerdings gering. Die gefährliche Tollwut wurde durch den großflächigen Abwurf von Impfködern in den 1980er-Jahren besiegt. Seit 2008 ist Österreich Tollwut-frei. "Die Krankheit war allerdings auch ein natürliches Regulativ, das die Fuchspopulation niedrig hielt. Seit es die Tollwut nicht mehr gibt, gibt es wieder mehr Füchse und mit ihnen nun Infektionen mit dem Fuchsbandwurm", sagt Zink. Der Wurm kann beim Menschen schwere Leberschäden auslösen, die tödlich enden. Laut Gesundheitsministerium gibt es in Österreich pro Jahr drei bis fünf Fälle. Die grassierende Schweinepest ist in Österreich noch nicht angekommen. Sie ist für den Menschen harmlos.

Harmlos ist der Mensch für Tiere nicht. Sein Eingriff in die Natur hat viele Wildtiere zum Umzug bewegt. In Scharen verlassen sie den Wald. In der Stadt ist das Leben schöner. Und es gibt vergorene Äpfel.