Vor 100 Jahren, am 18. August 1915, ist die Ankeruhr in Wien erstmals in Betrieb gegangen, allerdings unter schwierigen Kriegs-Bedingungen.
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Im Krieg gehen die Uhren anders. Vor knapp hundert Jahren belegten zwei für die Geschichte der Stadt Wien bedeutsame Ereignisse die buchstäbliche Wahrheit dieses Ausspruchs.
Es war im Jahr 1911, als die Lebens- und Rentenversicherungs-Gesellschaft "Der Anker" erstmals Pläne für eine prunkvolle Uhr an ihrem Firmensitz am Hohen Markt präsentierte. Unter der Leitung von Franz Matsch, renommierter Maler, Bildhauer und ehemals Professor an der Kunstgewerbeschule, sollte sie als Brücke zwischen den zwei gerade neu errichteten Gebäuden des Ankerhofes entstehen, mit einer Spannweite von zehn und einer Höhe von siebeneinhalb Metern, die Uhr selbst mit einem Durchmesser von vier Meter.
Dahinfliehende Zeit
Die Entwürfe dafür stammten von Matsch selbst, das Uhrwerk konstruierte k. u. k. Hof-Uhrmacher Franz Morawetz. Zwei Ziele galt es miteinander zu vereinen, wie eine Begleitbroschüre informierte. Man wollte sowohl "die große historische Vergangenheit Wiens in Erinnerung bringen" als auch den Intentionen der Anker-Versicherung entsprechen, "denn die Uhr, die uns zeigt, wie die Zeit rasch dahinflieht, weist auf den Wert der Lebensversicherung hin".
Gestaltung und Konstruktion der Uhr folgen bis heute dieser Programmatik: An ihrer Vorderseite sind zwölf Personen der Wiener Geschichte zu sehen, Berühmtheiten aus Kunst und Politik, die unter musikalischer Begleitung beim Betrachter vorbeiziehen: von Marc Aurel und Karl den Großen über Rudolf von Habsburg und Prinz Eugen bis zu Maria Theresia und Joseph Haydn. Jeder Person ist eine bestimmte Melodie zugeordnet, vom Nibelungenlied über "Prinz Eugen, der edle Ritter" bis zu Haydns "Kaiserhymne". Letztere sollte stets genau um zwölf Uhr mittags erklingen, hervorgebracht, wie auch die anderen Musikstücke, von einer 800 Pfeifen starken Orgel im Inneren der Brücke.
Der Hintergrund der Figuren wird von einem kunstvoll gefertigten runden Mosaik gebildet, in der Mitte das Wappen der Stadt Wien und den Doppeladler darstellend, begrenzt von goldenen Herzen und zwölf Wappenschilden. Gerahmt wird die zentrale Zeitanzeige von weiteren symbolischen Darstellungen: an der Basis ein von einem prächtigen Teppich überdeckter Lindwurm (Basilisk), seitwärts je ein vergoldeter Rosenstock, an der Spitze ein Kind mit Schmetterling als Allegorie für das Leben, daneben der Tod mit Sanduhr sowie - ganz zentral - die strahlende Sonne.
Die Uhr war als Gesamtkunstwerk im Jugendstil konzipiert, dem sich Matsch, vom Historismus her kommend, zugewandt hatte, wenn auch bei weitem nicht so radikal wie sein ehemaliger Freund und Kollege Gustav Klimt. Betrieben wurde die Anlage von Beginn an elektrisch, für die Nachtstunden war eine Beleuchtung mit zwölf Scheinwerfern vorgesehen.
Uhr mit "Manderln"
Ausführlich erklärten die Zeitungen Aussehen und Funktionsweise der neuen Uhr und beteuerten, dass Wien damit eine "hochmoderne Sehenswürdigkeit" erhalten würde, ein prunkvolles Wahrzeichen der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt.
Wohlwollend wurde zudem der Umstand aufgenommen, dass die Uhr ausgerechnet an Wiens ältestem Platz situiert war. Nur die Satirezeitschrift "Kikeriki" ätzte ein wenig über die "Kunstuhr mit Musik und beweglichen Manderln".
Doch es sollte anders kommen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs durchkreuzte die hochfliegenden Pläne. Der Mangel an Rohstoffen und vor allem Arbeitskräften bei den beteiligten Firmen verzögerte die Eröffnung, wie das "Deutsche Volksblatt" berichtete: "Gerade jene Fabrik, welche für die Mechanik der Uhr die Präzisionsmaschine liefern sollte, arbeitet Tag und Nacht für die Bedürfnisse unserer Armee, deren Befriedigung natürlich vorangeht."
In Aussicht stellen konnte man den bereits sehnsüchtig wartenden Wienern lediglich einen Höreindruck der bereits fertiggestellten Orgel. So bot der bekannte Organist Vinzenz Goller im Dezember 1914 eine Stunde lang "patriotische Tonstücke" dar. Tausende Menschen waren gekommen, die ergriffen der Musik lauschten, und als zum Schluss die österreichische Hymne erklang, brach die Menge in stürmische Hochrufe auf den Kaiser aus.
Generalprobe 1915
Anders als ursprünglich vorgesehen, war die Ankeruhr zu einem brandaktuellen Symbol für die Monarchie geworden. Und ungewollt spiegelte sie den Auflösungszustand, in dem sich diese befand. Denn so wie der Krieg sich stets aufs Neue um Wochen und Monate verlängerte, musste auch die offizielle Eröffnung der Uhr in der Folge "auf unbestimmte Zeit aufgeschoben werden".
Die erste wirkliche Generalprobe erfolgte sodann ein Jahr darauf, am 18. August 1915, dem Geburtstag Kaiser Franz Josephs. Nun wurde zum ersten Mal auch die Uhr in Betrieb genommen. Erneut waren tausende Zuschauer gekommen, erneut ertönten patriotische Musikstücke, bei denen die Menge ergriffen das Haupt entblößte. Und auch im darauffolgenden Jahr fand zu Ehren des Kaisers eine Wiederholung dieses Spektakels statt. Nun wusste man bereits, wie die Zeitungen meldeten, dass die Uhr "tadellos läuft". Nach Friedensschluss sollte sie, so der Plan, endgültig der Öffentlichkeit übergeben werden.
Als der Kaiser drei Monate später starb und das Elend des Krieges auch in Wien immer deutlicher hervortrat, war ein feierlicher Eröffnungsakt für die "Ankeruhr", wie sie mittlerweile allseits genannt wurde, in noch weitere Ferne gerückt.
Wien war zum Zentrum der Kriegswirtschaft geworden. Hunderttausende Soldaten, Verwundete und Flüchtlinge durchströmten die Stadt, Nachschub- und Versorgungsleistungen dominierten das Verkehrsgeschehen. Es herrschte Ausnahmezustand, die Einwohnerzahl der Stadt kletterte auf über 2,4 Millionen.
Von Beginn an besonders spürbar war der Mangel an Kohle. Lieferungs- und Transportengpässe führten zu einer Verknappung des lebenswichtigen Rohstoffs, sodass man schließlich zu einer chronometrischen Notmaßnahme griff: Von 1. Mai bis 30. September 1916 wurde - nach dem Vorbild von Deutschland und Ungarn - in ganz Österreich die Sommerzeit eingeführt. Die Uhren waren um eine Stunde vorzustellen, wodurch, wie der Wiener Magistrat in einer Kundmachung erklärte, eine "bessere Ausnützung des Tageslichtes und Ersparung an künstlicher Beleuchtung" erreicht werden sollte.
Die Manipulation der Uhrzeit wurde in den Zeitungen genauestens erläutert. Die eigentliche Umstellung ging problemlos und in einer Art "Silvesternachtsstimmung" mit "Applaus und Bravorufen" vor sich, wie die "Neue Freie Presse" meldete. Bei der Bevölkerung herrschte Euphorie, bisweilen Skepis - manche bezweifelten, ob die Energieersparnis wirklich so groß sein würde -, aber auch Witz und Spott. Im "Kikeriki" hieß es, dass in Wien schon lange nicht mehr soviel "gedraht" worden sei, wie in der Nacht der Zeitumstellung, und Karl Kraus mokierte sich in seiner "Fackel" über die dadurch ausgelöste Hysterie: "Die Uhren selbst mögen die verschiedensten Zeiten anzeigen: die Wiener sind pünktlich zur Stelle, um nachzusehn. Wie sie späterhin gehen werden, nämlich die Uhren, ist wurscht; jetzt hat’s zu stimmen!"
Zeiteinschränkungen
Dessen ungeachtet wurde die Sommerzeit auch im folgenden Jahr wieder eingeführt, wo sie von 16. April bis 17. September 1917 dauerte. Sie wurde zum vertrauten Zeitregulativ, letztlich bis zum Jahr 1920.
"Die Sonne als Zeitmesser hat die Geltung verloren, es herrscht die Verordnung", resümierte ein Zeitgenosse schon 1916. Eine treffende Diagnose angesichts der sich verschärfenden Kriegsereignisse, die noch im selben Jahr weitere behördliche Zeiteinschränkungen hervorriefen. So mussten in den Wintermonaten alle Gewerbebetriebe, mit Ausnahme des Lebensmittelhandels, spätestens um 19 Uhr schließen; die Sperrstunde der Gasthäuser wurde mit 23 Uhr, jene der Cafés mit 24 Uhr festgesetzt, die Außenbeleuchtung von Theatern, Vergnügungs- und Geschäftslokalen wurde gänzlich verboten.
Auch die Beleuchtung der öffentlichen Uhren wurde schließlich ab Jänner 1917 "mit Rücksicht auf die durch die lange Kriegsdauer gebotene Sparsamkeit" eingestellt. Ausnahmen bildeten lediglich die drei Kommunaluhren am Opernring, am Schottentor und an der Mariahilfer Straße. Diese Verdunkelungsmaßnahme führte gemeinsam mit dem tristen Hungeralltag und der immer spürbareren Mangelwirtschaft zu einer Atmosphäre in der Stadt, die bei vielen ein Untergangsszenario heraufbeschwor. Es schien wie ein Rückfall in vorzivilisatorische Zeiten, und die zunehmend kaputten, nachts unsichtbaren Uhren brachten dies wie kein anderes Objekt auf den Punkt. Auch der im Kriegsarchiv tätige Alfred Polgar registrierte umfassende Zerfallstendenzen: "Die Uhren auf den Straßen, an Kirchtürmen und öffentlichen Gebäuden gehen vor oder zurück oder gar nicht. Mancher fehlt das Zifferblatt, mancher ein Zeiger, mancher beide. Die, welche ein Schlagwerk haben, schlagen nach Laune. Die Zeit ist aus den Fugen, die Uhrmacher können nichts dafür . . ."
Auch an eine Inbetriebnahme der Ankeruhr war nicht mehr zu denken. Franz Matsch blieb nichts anderes übrig, als zumindest die Erinnerung an sein Lebenswerk hochzuhalten. Im Mai 1918 lud er zu einer großen Atelierschau, bei der man unter anderem seine Entwürfe für die Ankeruhr besichtigen konnte. Stolz wies er darauf hin, dass diese zwar schon vollendet sei, aber erst als "Friedensuhr" enthüllt werden sollte.
Kaiserreich-Abgesang
Die feierliche Zeremonie sollte letztlich nie mehr stattfinden. Nach Kriegsende wurde die Uhr, sobald die Umstände es zuließen, ohne großen Pomp in Betrieb genommen. Nichtsdestoweniger fungierte sie von Beginn an als besonderer Anziehungspunkt. Das Ziel, Wien um eine Sehenswürdigkeit zu bereichern, war erreicht. Wohl auch deshalb, weil die Uhr mit ihrer ausgeklügelten Ikonographie als letzte prunkvolle Manifestation des alten Österreich zu interpretieren war, ein schlussendlich grandioser künstlerischer Abgesang auf das verflossene Kaiserreich.
Nur die Kaiserhymne passte nicht mehr so recht ins politische Selbstverständnis der jungen Republik. Sie wurde durch eine neue Melodie aus Haydns "Schöpfung" ersetzt, die seither jeden Mittag aus der Ankeruhr erklingt: "Die Himmel erzählen die Ehre Gottes". Von der heiligen Trinität "Gott, Kaiser und Vaterland", für die man einst ruhmreiche Werke und Taten zu vollbringen gedachte, war immerhin noch Gott geblieben.
Peter Payer, geb. 1962, Historiker und Stadtforscher, Kurator im Technischen Mu-seum Wien. Zahlreiche Publikationen, zuletzt: "Die synchronisierte Stadt. Öffentliche Uhren und Zeitwahrnehmung, Wien 1850 bis heute" (Holzhausen Verlag).