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Als erstes muss der Bart weg

Von Kathy Gannon

Politik

Kabul - Neue Gesichter strahlen auf den Straßen von Kabul: Glatt rasierte Männer, die sich lächelnd das Kinn reiben. "Das fühlt sich wirklich gut an", freut sich Ahmed Schah. "Den Bart habe ich gehasst. Das hat immer so gekratzt." Frisch gestutzt hat ein alter Mann seinen grauen Bart. Mit einem Kassettenrecorder am Ohr tanzt er auf der Straße und ruft: "Wir sind frei!" Kabul feiert den Abzug der Taliban, die fünf Jahre lang den Einwohnern das Leben schwer gemacht haben.


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Die meisten Frauen auf den Straßen haben aber weiter ihre Burka an - das den ganzen Körper verhüllende Schleiergewand ist schon vor den Taliban Bestandteil der Tradition gewesen. Aber in einem Bus testet eine Frau schon einmal die neue Lage und zieht sich die Burka über den Kopf. Eine Gruppe von Männern schaut lachend zu. Aber dann verhüllt sich die Frau wieder, als draußen sechs Frauen in der Burka zu einer Hochzeit gehen. "Erst einmal lassen wir die Burka an", sagt Mariam Dschan. "Wir wissen noch nicht, was das für Leute in der Stadt sind", fügt sie mit Blick auf die Soldaten der Nordallianz hinzu. Ihr Mann Mohammed Wasir, ein afghanischer Tadschike, erklärt: "Das ist unsere Tradition. Wir sind uns nicht sicher, ob das jetzt aufgegeben wird."

"Sind sie wirklich gegangen?" fragen sich neugierige Einwohner, die durch die offenen Türen in verlassene Taliban-Kasernen blicken. Mudschaheddin der Nordallianz ziehen am Morgen von Haus zu Haus, um letzte Taliban-Funktionäre oder ausländische Unterstützer der islamischen Fundamentalisten aufzuspüren. Bald sind erste Ergebnisse der Razzia zu sehen: Vor einer kleinen Polizeiwache im Stadtzentrum liegen die Leichen von fünf Pakistanis, in der Nähe eines Gästehauses der Vereinten Nationen sind zwei tote Araber zu sehen. "Ich glaube, es gab einige Taliban, die noch schliefen, als alle anderen abrückten", sagt lächelnd der Kabuler Abdul Dschan. "Dann sind sie aufgewacht und haben nur gedacht: 'Oh mein Gott, was kann ich tun?'." Aus Angst vor Vergeltung versteckt ein Angestellter der Taliban-Nachrichtenagentur Bachtar seinen Turban unter dem Sitz seines Autos. "Glauben Sie, dass sie mir etwas tun werden?" fragt er.

An mehreren Stellen von Kabul kommen die Leute in kleinen Gruppen zusammen um auszutauschen, was sie gesehen haben. Einige überlegen, in welchen Häusern Taliban-Kommandanten gewohnt haben. Im nördlichen Stadtteil Khair Khana, wo vor allem aus dem Norden geflohene Tadschiken leben, rufen sich die Leute Glückwünsche über die Straße zu. "Oh, mein Gott, sie sind da!" Einige Männer umarmen sich. "Wir wissen nicht, was passieren wird", sagt Schir Agha. "Wir beten nur um Frieden."

Der Tadschike Sabiullah will jetzt erst einmal zum Friseur gehen, um seinen Bart abzurasieren. "Heute ist ein glücklicher Tag", freut er sich.

In der Villensiedlung Wasir Akbar Khan sind die Häuser der Taliban-Funktionäre verlassen. Die schweren Stahltore zum Haus des ehemaligen Gesundheitsministers Mullah Abbas Achund stehen weit offen. Keine Spur von den früheren Bewohnern gibt es in der Straße 15 der Siedlung, die allgemein als "Straße der Gäste" bekannt war. Hier wohnten Araber, Tschetschenen und Usbeken, die als Freiwillige zur Unterstützung der Taliban nach Kabul gekommen waren.

Viele von ihnen werden mit Osama bin Laden in Zusammenhang gebracht.

Einige Taliban schauten vor ihrem Abzug noch einmal in den Buden der Geldwechsler vorbei. Nach dem Bericht des Händlers Dr. Wali hielt am frühen Morgen ein Panzer vor den Läden an. Die Soldaten stiegen ab und verlangten alles verfügbare Geld. Dann kletterten sie wieder auf ihr Kettenfahrzeug und rollten aus der Stadt hinaus.