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Die im deutschen Islamismus-Bericht aufgezeigte Nähe der Türkei zu Islamisten hat Präsident Erdogan offen praktiziert. Gegenüber Dschihadisten agiert die Türkei widersprüchlich und eher pragmatisch als ideologisch.
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Istanbul. Die Replik folgte prompt und im schroffen Ton: Als "verdrehte Mentalität, mit der seit einiger Zeit versucht wird, unser Land zu zermürben", bezeichnete das türkische Außenministerium am Mittwoch den tags zuvor bekannt gewordenen Geheimbericht der deutschen Regierung. Diesem zufolge habe sich die Türkei schrittweise "zur zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen" entwickelt. Allerdings hat sich das Auswärtige Amt, das an der Letztfassung des Papiers nicht beteiligt war, davon distanziert. Regierungssprecher Steffen Seibert bemühte sich am Mittwoch, die Wogen zu glätten: Die Türkei sei Partner im Kampf gegen die Terrormiliz IS. Und Deutschland habe keinen Anlass, das EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei infrage zu stellen.
IS- und Al-Kaida-Anhänger demonstrieren unbehelligt
Wer nach Belegen für den deutschen Vorwurf sucht, wird rasch fündig. Tatsächlich sind die zentralen Vorwürfe des Papiers nicht neu. Zwei Beispiele: Die islamistische Gruppe Hizb-ut-Tahrir ist in Deutschland und in vielen Ländern des Nahen Ostens verboten, weil sie zur Errichtung eines islamischen Kalifats aufruft und dazu auch die Anwendung von Gewalt propagiert. In der Türkei aber genießt Hizb-ut-Tahrir Schutz und kann ungehindert Seminare und Kongresse durchführen. Im März durften die Islam-Fundamentalisten in Ankara eine Tagung mit 5000 Teilnehmern abhalten, die unter dem Motto "Der Terror, die wahren Schuldigen und die dauerhafte Lösung" die Erneuerung des Kalifats forderten.
Die Versammlung war selbst für die Türkei eine Premiere, doch in ihren Medien wurde sie kaum erwähnt - geschweige denn kontrovers diskutiert. Ebenso wenig Kritik zogen mehr als 10.000 Islamisten Ende Mai in Istanbul auf sich, die unter dem Slogan "Freiheit für Jerusalem" marschierten. Organisator der Demonstration war die umstrittene islamistische Menschenrechtsorganisation IHH, der eine besondere Nähe zur islamisch-konservativen Regierungspartei AKP nachgesagt wird. In dem Aufzug liefen unbehelligt auch zahlreiche Personen mit, die klar als Anhänger des Islamischen Staates oder von Al-Kaida zu erkennen waren.
Kein Geheimnis ist auch die enge Beziehung Erdogans zur palästinensischen Hamas, die seit 2003 von der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuft, von Ankara aber als legitime Vertretung des palästinensischen Volkes betrachtet wird. Mehrfach empfing Erdogan den Hamas-Chef Khaled Maschaal in der Türkei und begrüßte ihn als Ehrengast auf AKP-Parteitagen.
Ebenso wenig überrascht die Feststellung, dass der Islamist Erdogan mit den islamistischen ägyptischen Moslembrüdern sympathisiert. Bis heute zeigt der türkische Präsident auf Kundgebungen die Vier-Finger-Geste, die auf das Massaker an Muslimbrüdern in Kairo verweist, bei dem ägyptische Sicherheitskräfte vor drei Jahren mehr als 900 Menschen töteten. Erdogan betrachtet den ehemaligen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi als Bruder im Geiste und den blutigen Putsch gegen ihn als Teil derselben vermeintlichen Verschwörung des Westens, der er selbst beim gescheiterten Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs im Juli fast zum Opfer gefallen wäre.
Anders als bei gemäßigten Islamisten wie den Muslimbrüdern, der Hamas oder der Hizb-ut-Tahrir ist Erdogans Politik gegenüber harten Dschihadisten wie dem Islamischen Staat oder der Al-Nusra-Front in Syrien widersprüchlich und gehorcht eher pragmatischen als ideologischen Vorgaben. Die Türkei hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie Rebellengruppen in Syrien unterstützt, aber immer Wert darauf gelegt, dass es sich dabei um "moderate Gruppen" handle. Als Reporter 2015 aufdeckten, dass auch Islamisten mit Waffen beliefert wurden, räumte der Staat das indirekt ein, indem er die Journalisten wegen "Geheimnisverrats" verurteilte. Häufig wurde der Vorwurf erhoben, Ankara habe nicht so genau hingeschaut, wenn ausländische Islamisten über die Türkei zum IS in Syrien gereist seien. Russland behauptete Ende letzten Jahres, dass die Türkei der Hauptabnehmer des IS-Erdöls und Erdogans Sohn Bilal in den Schmuggel verwickelt sei.
Präsident Erdogan hat solche Vorwürfe stets kategorisch zurückgewiesen. Regierung und Justiz gehen unnachsichtig gegen jeden vor, der eine Verbindung des türkischen Staates mit dem IS behauptet. Der IS gilt in der Türkei als Terrororganisation, wird offiziell für eine Reihe schwerer Terroranschläge verantwortlich gemacht und von der staatlichen Religionsbehörde Diyanet als "unislamisch" bekämpft. In den vergangenen Monaten wurden hunderte mutmaßliche IS-Mitglieder festgenommen und tausende Verdächtige an der Einreise in die Türkei gehindert. Laut Medienberichten warten derzeit mehr als 500 Personen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion in Polizeigewahrsam auf ihre Abschiebung nach Russland, eine Maßnahme im Zusammenhang mit der türkisch-russischen Annäherung.
Mehr als 10.000 Türken in Syrien bei Terrortraining
Doch hat die Türkei die Gefahr durch radikale Dschihadisten erst sehr spät erkannt und ihnen damit ermöglicht, im gesamten Land Terrorzellen zu bilden. Beobachter schätzen die Zahl türkischer Islamisten, die ein militärisches Terrortraining in Syrien durchlaufen haben, auf weit mehr als 10.000 Personen. In den ostanatolischen, nahe der syrischen Grenze gelegenen Großstädten Gaziantep und Sanliurfa unterhalten verschiedene Islamistenmilizen aus Syrien Büros. Wenn Journalisten auf ihren Spuren recherchieren, müssen sie damit rechnen, ermordet zu werden, wie die syrischen Reporter Ibrahim Abdulkadir und Firaz Hamadi im vergangenen Oktober. Vor Gericht können Islamisten weiterhin mit Milde rechnen. Der mutmaßliche türkische IS-Chef Abu Hanzala wurde im März zusammen mit anderen Angeklagten im größten IS-Prozess der Türkei in Istanbul wieder auf freien Fuß gesetzt - nur fünf Tage, nachdem ein IS-Selbstmordattentäter drei israelische und einen iranischen Touristen im Zentrum der Bosporusmetropole getötet hatte.