Opposition setzte Prüfung durch. | Geplantes Referendum könnte nicht stattfinden. | Ankara/Wien. Recep Tayyip Erdogan bleibt sicherheitshalber im Land. Der türkische Ministerpräsident hat seine Reise nach Kuba verschoben; diese und kommende Woche möchte er in Ankara sein. Denn schon bald soll dort das Verfassungsgericht eine Entscheidung treffen, von der vieles abhängen könnte: die Zukunft eines der zentralen Vorhaben der Regierung, einiges an internationalem Ansehen der Türkei - und möglicherweise auch die Antwort auf die Frage, ob es zu vorgezogenen Parlamentswahlen kommt.
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Das Gericht soll über eine neue türkische Verfassung urteilen. Diese soll die alte ablösen, die nach dem Militärputsch 1980 verfasst worden ist. Nach den Plänen der Regierung soll es eine Verfassung sein, die größeren Wert auf Frauen-, Minderheiten- und Persönlichkeitsrechte oder die Hoheit des Staates über das Militär legt. Eine Verfassung, die für eine mögliche Mitgliedschaft des Landes in der Europäischen Union notwendig ist, wie Erdogans Partei AKP argumentiert.
In diesem Punkt geben ihm zahlreiche Menschenrechtsorganisationen und Politologen recht: Die Türkei müsse die Macht des Militärs verringern und demokratischen Standards entsprechen, zu denen auch die Rechte ethnischer oder religiöser Minderheiten zählen. Die Politikwissenschafterin Zeynep Sarlak formuliert es gegenüber der "Wiener Zeitung" so: "Die Demokratie in der Türkei ist noch nicht konsolidiert. Und ohne neue Verfassung kann sie es nicht sein."
Die nationalistische Opposition jedoch, die ihren Machteinfluss durch den Aufstieg der AKP mit ihren islamischen Wurzeln schwinden sieht, wirft Erdogan vor, noch mehr Institutionen - wie etwa das Verfassungsgericht selbst - unter seine Kontrolle bringen zu wollen. Denn die Gesetzespläne sehen auch Justizreformen vor.
Prüfung zulässig?
So hat die Opposition eine Debatte über den Verfassungsentwurf jahrelang boykottiert. Und als dieser vom Parlament beschlossen war, ist die CHP (Republikanische Volkspartei) vor das Verfassungsgericht gezogen. Dabei dürften die Richter die Änderungen nur auf Formfehler überprüfen und nicht auf den Inhalt. Doch das haben sie nicht immer befolgt - etwa als sie vor zwei Jahren ein Gesetz verhindert haben, das das Tragen von Kopftüchern an Universitäten erlaubt hätte.
Falls das Gericht nun einige Punkte als verfassungswidrig ansieht, ist unklar, ob das Referendum über das Gesetzespaket wie geplant am 12. September stattfinden kann. Umgekehrt sind sich Experten nicht einmal einig, ob eine Prüfung vor der Volksabstimmung überhaupt zulässig sei.
Die Pläne zum Gesetz
Die mehr als 20 Gesetzesänderungen für eine neue türkische Verfassung sehen neben Justizreformen auch die Stärkung von Persönlichkeitsrechten vor. So sollen Bürger die Möglichkeit zu Einzelklagen vor dem Verfassungsgericht erhalten, und ist ein strengerer Schutz persönlicher Daten geplant.
Weiters sollen die Gewerkschaftsrechte gestärkt und verfassungsrechtliche Grundlagen für bessere Chancen für Frauen in der Arbeitswelt geschaffen werden.
Der Zeitraum für politische Betätigungsverbote soll von fünf auf drei Jahre reduziert werden.
Zudem sollen sich die Militärs künftig von der zivilen Justiz kontrollieren lassen. Die AKP will außerdem einen Artikel der jetzigen Verfassung aufheben, der den für den Putsch 1980 verantwortlichen Generälen Immunität garantierte.
Mit ihrem Vorhaben, Parteienverbote zu erschweren, ist die Regierung allerdings im Parlament gescheitert. Sie wollte die Möglichkeit von Gerichten einschränken, ein Verbot auszusprechen. Ein solches hätte künftig nur im Konsens mit dem Parlament machbar sein sollen. Doch für den Vorschlag erhielt die AKP nicht genug Stimmen im Abgeordnetenhaus.
Besonders umstritten waren die Pläne zur Neuordnung des Verfassungsgerichts und des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte, der für deren Ernennung zuständig ist. Der erste soll von derzeit elf Mitgliedern auf 17 Mitglieder erweitert werden; das Parlament darf drei von ihnen selbst wählen. Dem haben die Abgeordneten bereits mehrheitlich zugestimmt.
Auch der Hohe Richterrat soll künftig mehr als die jetzigen sieben Sitze haben. Ein Teil der Mitglieder würde dann von Parlament und Präsident ernannt werden.