Seit dem Zweiten Weltkrieg galt in Europa, dass man sich auf die USA stets verlassen kann. Aus Angela Merkels Sicht hat sich das mit Donald Trump aber überholt. Nun soll Europa sein Glück selbst in die Hand nehmen. Doch kann das gelingen?
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Brüssel/Berlin. Für Barack Obama ist das Brandenburger Tor eine gewohnte Kulisse, schon als US-Präsident hielt er hier im Jahr 2013 eine Rede. Und so wie damals flogen Obama auch diesmal die Herzen der Deutschen zu. Um laute Jubelrufe und lange anhaltenden Applaus auszulösen, reichte es schon, dass Obama die Menge vor dem Berliner Wahrzeichen am vergangenen Donnerstag mit einem "Guten Tag" auf Deutsch begrüßt hatte.
Dass der Demokrat als Elder Statesman in der deutschen Hauptstadt wie ein Popstar gefeiert wird, hat viel mit ihm persönlich zu tun. In legerem Ton erzählt der ehemalige Präsident, der in Europa so gut wie immer ein Sympathieträger war, etwa darüber, wie es ist, nun endlich wieder ausschlafen zu können. Oder dass er nun mehr Zeit für seine beiden Töchter hat. Noch mehr als mit ihm persönlich dürfte die Obama-Begeisterung diesseits des Atlantiks aber mit dem Politikzugang des heute 55-Jährigen zu tun haben.
Denn auch wenn der in Hawaii geborene Obama den Aufstieg Chinas als einer der größten Herausforderungen ansah, war er viel weniger der pazifisch orientierte Präsident als anfangs angenommen. Europa blieb für den 44. US-Präsidenten stets mit im Fokus und als Russland die Krim annektierte und die Ostukraine im Chaos versank, standen die Vereinigten Staaten der Alten Welt mit Soldaten und Panzern zur Seite. Damit bediente Obama auch ein Narrativ, dass die Europäer seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer wieder und wieder eingeübt und auch bestätigt bekommen haben: Auf den großen Bruder USA, mit dem man Werte wie Demokratie, Freiheit oder Toleranz teilt, ist immer Verlass.
Doch diese Erzählung von Gemeinsamkeit ist in den vergangenen Tagen massiv ins Wanken geraten, denn auf seiner ersten Auslandsreise hat Obamas Nachfolger Donald Trump allen gerade noch einmal nachdrücklich klargemacht, dass das, was bisher war, so nicht mehr gilt. So sieht Trump die Nato, die seit Jahrzehnten für die Sicherheit Europas steht, im Augenblick vor allem unter der Perspektive der zu geringen Beitragszahlungen. Und beim am Wochenende zu Ende gegangenen G7-Gipfel in Taormina vertraten die USA - abgesehen vom Thema Terrorismus und einem Minimalkonsens beim Freihandel - bei so gut wie allen Punkten eine genau gegenläufige Position zu den restlichen G7-Ländern.
Die Stimmung dürfte dabei so frustrierend gewesen sein, dass sogar Angela Merkel, die seit Beginn ihrer Politkarriere als eingefleischte Transatlantikerin gilt, mehr als deutliche Worte in Richtung USA findet. "Die Zeiten, in denen wir uns auf andere verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt", sagt die deutsche Kanzlerin, als sie am Sonntag fast direkt von der glamourösen Atmosphäre im sizilianischen Taormina in ein Bierzelt in München wechselt. Die Konsequenz dieser Entwicklung ist für Merkel klar. "Wir müssen selber für unsere Zukunft kämpfen - als Europäer, für unser Schicksal", sagt Merkel unter dem Applaus der mehr als 2000 Bierzeltgäste. Ganz ähnlich hatte sie auch schon im Jänner, kurz bevor Trump angelobt wurde, formuliert.
Wirtschaftliche Weltmacht
Mit ihrem Ruf nach mehr Eigenständigkeit macht Merkel eine weitreichende Ansage. Denn dass die USA mit der Abrissbirne durch die westliche Nachkriegsarchitektur toben, dürfte derzeit vor allem eher für Irritation und Angst sorgen als für Aufbruchsstimmung. Und schließlich sind die USA nicht die Einzigen, die sich zurückziehen. Mit dem Austritt Großbritanniens verliert die EU nicht nur die zweitgrößte Volkswirtschaft, es geht auch ein militärisch starker Partner verloren, der bis heute gute Kontakte in alle Teile der Welt unterhält.
Doch das Bröckeln der bisherigen Ordnung könnte auch tatsächlich Raum für Neues bieten, Wolfgang Ischinger, der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, spricht sogar von einer "historischen Gestaltungschance", die jetzt ergriffen werden müsse. Doch schon jetzt scheint auch klar, dass der Rückzug der Amerikaner und Briten nicht nur Chancen eröffnet, sondern auch Lücken hinterlässt, die sich nur schwer füllen lassen werden.
Vergleichsweise leicht werden sich die Europäer etwa beim Thema Handel tun. Dort stellt man schon jetzt eine Weltmacht dar, die sich von niemandem die Regeln diktieren lassen muss. Und die EU könnte sogar von Trumps Abschottungsbestrebungen profitieren, schließlich handelt sie derzeit mit 20 Staaten in aller Welt Freihandelsabkommen aus, darunter Japan, Australien und Mexiko. Schwieriger dürfte es da schon werden, die Wirtschafts- und Währungsunion zukunftsfit zu machen. Zwar ist mit Großbritannien der größte Bremsklotz nun weg, doch der gemeinsame Haushalt für die Eurozone - verbunden mit einem eigenen Finanzminister - stößt auch bei anderen Ländern auf Widerspruch. Doch Merkel scheint mittlerweile bereit, für eine krisenfeste Währungsunion einiges in die Waagschale zu werfen. "Aus deutscher Sicht ist es möglich, die Verträge zu ändern, wenn man das braucht, um die Eurozone zu stärken", sagte Merkel Anfang Mai beim Antrittsbesuch des neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der wohl künftig nicht nur in Europa ihr wichtigster Verbündeter sein wird.
In einer viel schwierigeren Ausgangsposition befinden sich die Europäer dagegen, wenn es darum geht, sicherheits- und ordnungspolitisch auf eigenen Beinen zu stehen, denn mit Briten und Amerikanern bröckeln gleich zwei tragenden Säulen der gemeinsamen westlichen Militärarchitektur. Schließlich verfügen diese beiden Länder nicht nur über Flugzeugträger und modernste Kampfjets, sondern sie lieferten in der Vergangenheit oft auch die entscheidenden nachrichtendienstlichen Erkenntnisse.
Doch auch in diesem Bereich gibt es Bewegung, seitdem die Briten als Bremser weggefallen sind. So wird in Brüssel eine Kommandozentrale für gemeinsame Militäreinsätze aufgebaut und bei den osteuropäischen Ländern sind die Ressentiments der Vergangenheit geschwunden, seit zu der Bedrohung durch Russland die Sorge um das Funktionieren der Nato gekommen ist. Bereits jetzt kooperieren die Armeen Deutschlands, Frankreichs, Polens, Rumäniens, Tschechiens und der Niederlande intensiv.
Der Wind hat sich gedreht
Voraussetzung dafür, dass die Europäer ihr Schicksal so in die Hand nehmen, wie sich Merkel das wünscht, ist freilich, dass die Europäer nach den vielen Streitereien zum Gemeinsamen zurückfinden und in Brüssel nicht primär die nationale Klaviatur bedienen. Doch hier scheint sich der Wind zumindest schon ein Stück weit gedreht zu haben. So haben die 27 verbleibenden EU-Mitglieder im Zuge des Brexit bereits erstaunliche Einigkeit demonstriert. Und überhaupt scheint derzeit in Europa wieder vieles leichter von der Hand zu gehen. Wirtschaftlich steht die EU - immerhin der größte Binnenmarkt der Welt - wieder besser da, in allen 28 Ländern gibt es wieder Wachstum. Zudem haben bei den Wahlen in den Niederlanden und Frankreich die Rechtspopulisten eben nicht die befürchteten Erfolge eingefahren. "Die Blockade im Kopf ist weg", sagt Europaexperte Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik.