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Altes Sowjetsystem, runderneuert

Von WZ-Korrespondentin Inna Hartwich

Europaarchiv

Jelzin brachte mit Wirtschaftsreformen die Demokratie in Verruf. | Stabilität ersetzte politische Freiheiten. Sowjet-Nostalgie lebt weiter.


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Moskau. Alexej Wolochow ist nie ausgezogen. Er hat ein wenig umgeräumt, die Bilder umgehängt, sich einen größeren Tisch besorgt. Große Veränderungen aber? Nein, die sind nicht Alexej Wolochows Sache. Sie waren das noch nie. Warum auch? Es gab den Staat. Er sorgte für einen. Er sagte, was gut und was schlecht ist. Er plante die Schule, plante die Universität, die Ferien und die Feiertage. Er plante das Leben. Einfach war das. Bequem.

Und heute? Alexej Wolochow schaut aus dem Fenster, sagt nichts. Er hätte gern all das behalten. Die Bilder, die Werte, die Ideologien. Sein Leben. Ein bisschen davon bewahrt der Pädagoge in seinem Büro mitten im Moskauer Zentrum, die Fahnen, Fotos von lachenden Kindern, mit Pioniertüchern um den Hals, Urkunden und Siegerpokale aus alten Zeiten. Es waren Pioniere. Alexej Wolochow leitet immer noch die Organisation, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auseinanderfiel, verteufelt wurde und dann umbenannt. Warum aber das verfluchen, was einst gut war? Der bald 60-Jährige tut sich schwer, in der modernen Wirklichkeit anzukommen. Er schimpft nicht. Auch das ist nicht seine Art, ein Ewiggestriger ist er nicht. Er will nur sein Land zurück. "Es war ein besseres System, ein humaneres." Er spielt mit seinem Smartphone. Schaut verlegen, so als ob ihn gerade der Gedanke erreicht hätte, wie paradox seine Worte und seine Taten sind. Wie merkwürdig er sein Land definiert und dessen Errungenschaften.

Sein Land, es ist heute so frei, wie es in der russischen Geschichte noch nie war. Frei, die Menschen eigene Entscheidungen treffen zu lassen, zu reisen, sich im Privaten zu verwirklichen. Und doch so bestimmend, unterdrückend und übermächtig, wenn es um die politische und gesellschaftliche Weiterentwicklung geht. Es ist ein doppeltes Russland. Ein Land, das 20 Jahre nach dem langsamen Zerfall der Sowjetunion sich immer noch in Großmachtphantasien übt und sich mit Phantomschmerzen abplagt.

Aufbruch. Start in eine neue Zeit. Voller Unsicherheit und Euphorie. Ein Taumeln an der Kante zum historischen Umbruch. Es ist der 19. August 1991, altkommunistische Hardliner haben Michail Gorbatschow in seinem Urlaubsdomizil in Foros auf der Krim unter Hausarrest gestellt. Die "Gruppe der Acht" verbreitet die Meldung, der sowjetische Präsident sei krank, könne die Amtsgeschäfte nicht weiterführen. Gorbatschows Datscha wird umstellt. Für 60 Stunden, die das Leben von Millionen Menschen verändern, die Weltordnung umkrempeln. Der Staatsstreich vor dem Weißen Haus in Moskau scheitert. Russland muss sich neu erfinden. Manche werden daran zerbrechen.

Nach der Euphorie kam die Ernüchterung

In diesen Tagen erzählen viele Russen vom August-Putsch. Jeder hat etwas zu sagen. Schimpftiraden, Hoffnungen, Enttäuschungen, Resignation, gemischt mit Tränen und einem freudigen Lächeln. Sie schnappten ihre minderjährigen Kinder und rannten vor das Weiße Haus, sie harrten aus, zwischen Panzern, Soldaten, Parteigenossen, Flugblättern. Sie steckten Blumen in die Kanonenrohre und sich den Panzern entgegen, sie wussten nicht, was auf sie zukommt. Das wusste niemand. Nur: Es wird anders. Ein bisschen vielleicht. Freier, besser.

Heute sind viele ernüchtert. Vor allem die Generation, die sich so viel vom Wandel versprach. Die Jungen. Von diesem zupackenden Mann aus Sibirien, der auf einen Panzer kletterte und mit seiner "Rede an die Bürger" den Putschisten die Stirn bot. Diesem Boris Jelzin, den sie später mit überwältigender Mehrheit zu ihrem neuen Präsidenten machten. Er gewährte ihnen vergleichsweise große Freiheiten und versuchte, die Vielfalt der Gesellschaft nicht als Bedrohung zu bekämpfen. Er, den viele heute ebenso wie Michail Gorbatschow nur noch als "Totengräber des Landes" sehen, bescherte den Russen das bis dahin ungekannte Geschenk einer demokratischen Verfassung - und stürzte sie damit ins Chaos.

Wie funktioniert Freiheit? Es waren Jahre des Zerfalls, die der frühere Präsident und heutige Regierungschef Wladimir Putin 2007 als die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet hat - dass während der Stalin-Ära sechs Millionen in den Gulags starben und Andersdenkende auch später noch in sowjetischen Arbeitslagern oder psychiatrische Anstalten landeten, kümmert ihn nicht.

Bis heute lastet das schwere sowjetische Erbe auf den Menschen im Land. Wie ein demokratisches Staatswesen auszusehen hat, definiert Russlands Führung selbst. Es seien lange Zeit westliche Modelle benutzt worden. Gebrauchtware, für andere Länder konzipiert, nicht anzuwenden für ihr Land, das so anders sei. Die Staatsspitze betont das gern. In der jüngsten Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada in Moskau sagte denn auch jeder Zweite der 1600 befragten Bewohner des Landes, er wünsche sich Demokratie, aber eine "vollkommen eigene Form, die nationalen Traditionen und Spezifika Russlands entspricht". "Ordnung im Staat" steht über den Menschenrechten. Russland, so die Befragten, könne nur als Imperium existieren. Die Obrigkeit und die Bevölkerung - sie sind getrennt wie eh und je.

Putin setzt wieder auf autoritären Staat

Die Teilung in "Öffentlichkeit" und "Privates" ist noch in der gesellschaftlichen Ordnung des zaristischen Russlands angelegt. Einem System, das auf Hierarchie baut. Auch die Sowjetunion war - trotz der Beschwörung einer Volksherrschaft - lediglich die Diktatur einer selbst ernannten Elite. Die demokratischen 1990er-Jahre unter Jelzin assoziieren die Russen mit Chaos (Schocktherapie), Verbrechen (Teile der Privatisierung) und Brutalität (Tschetschenien-Krieg). Jelzins Wirtschaftsreformen hatten das Land in Armut gestürzt, der von ihm initiierte Ausverkauf des Staates hatte lediglich der sich schnell bereichernden Elite etwas gebracht.

Putin erwies sich, als er 2000 die Präsidentschaftswahl gewann, in den Augen vieler als Heilsbringer, als starker Führer, der er bis heute sein will. Er sollte das Land vom Gefühl nationaler Malaise befreien. Er sorgte für Stabilität, die Menschen bekamen ihre Löhne ausgezahlt, konnten sich aufgrund der gestiegenen Öl- und Gaspreise wieder etwas leisten - und merkten nicht, wie der Staat immer mehr die gewonnene Freiheit aushöhlte. Er stärkte die Sicherheitsorgane, blähte den Verwaltungsapparat wieder auf. Der Anspruch, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, verkümmerte nach und nach. Und wer ihn nicht verkümmern lässt, den beugt der Staat. Er schaltet die Opposition aus, verwandelt sich auch unter seinem Nachfolger, Präsident Dmitri Medwedew, der einen liberaleren Kurs pflegt und stets von Modernisierung spricht, letztlich aber als Marionette Putins agiert, immer mehr in eine Sowjetunion unter veränderten Vorzeichen. Der Staat kontrolliert den Bürger, indem er ihn bürokratisiert und gesellschaftspolitisches Engagement von oben initiiert.

Wahlfarce und billige Polit-PR

Politischer Einsatz ist bis heute nicht erwünscht. Selbst bei Auswahltests für angehende Journalisten gibt niemand Politik als Interessensgebiet an. Aufmüpfige Bürger will Russland nicht, das wissen sie aus Erfahrung. Das "Politisierende" aber gilt als aufrührerisch. Wer will sich da exponieren? Tut das jemand, finden die Behörden schnell einen Grund, ihn mit Hilfe der willfährigen Justiz aus dem Verkehr zu ziehen. Oppositionsführer wie der frühere Vize-Regierungschef Boris Nemzow und der Anführer der Linken Front, Sergej Udalzow, landen regelmäßig hinter Gittern.

Einen Wahlkampf gibt es erst gar nicht. Dabei stehen mit den Parlamentswahlen im Dezember und den Präsidentschaftswahlen im kommenden März zwei richtungsweisende Entscheidungen an. Doch anstatt politischen Austausch zu pflegen, setzten die Politstrategen auf lächerliche PR-Aktionen. Da waschen hübsche "Medwedew-Girls" knapp bekleidet dreckige Autos oder es reißt sich die selbsternannte weibliche Putin-Armee ihre Kleider vom Leibe. Das Tandem aber äußert sich nach wie vor nicht darüber, wer bei der "Wahl" antreten wird.

Trotz guter Ausgangslage stagniert das Land. Die große Müdigkeit ist eingekehrt. Die gut Ausgebildeten wollen weg - ins Ausland, da könne man noch etwas erreichen. Die, die bleiben, gehen in den Staatsdienst. Geld verdienen, für ein kleines Häuschen, ein Auto. Ein ruhiges Leben. Die Zivilgesellschaft baut sich nur langsam auf. Denn die meisten ziehen sich zurück, sind genau solche Phantome hinter ihren vier Wänden wie der Staat es ist, der seine Bürger nicht ernst nimmt. Oder sie träumen sich weg wie Alexej Wolochow, der sich die Sowjetunion zurückwünscht. Aber "natürlich nur das Beste davon". Was das ist? Alexej Wolochow verstummt.