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Altes Trauma, neue Wut: Begegnungen an der irischen Grenze

Von Siobhán Geets

Politik

Die Beziehungen zwischen Dublin und London sind schlecht wie lange nicht mehr. Darunter leidet vor allem Nordirland. Die britische Provinz ist zum Spielball der Brexit-Verhandlungen geworden.


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An einem kühlen Oktobertag stehen knapp drei Dutzend Menschen auf einer verlassenen Straße im irischen Hinterland und blicken fragend um sich. Es sind Journalisten aus Deutschland und Österreich auf der Suche nach der irischen Grenze, aber da ist nichts.

Ein Bach fließt durch ein Feld, weiter oben grasen Schafe, in der Nähe bellt ein Hund. "Wo soll jetzt diese Grenze sein?", fragt einer. "Ungefähr hier", sagt Peadar Carpenter und deutet auf einen Punkt zwei Meter die Straße runter. "Sie sind in Irland. Der Kollege da drüben befindet sich schon in Nordirland." Der ehemalige irische Diplomat erklärt den Journalisten, was sie unmöglich sehen können: Hier, wenige Kilometer nördlich der Kleinstadt Dundalk, beginnt die britische Provinz Nordirland. Die Journalisten befinden sich auf einer von rund 270 Straßen, die über die Grenze führen. Ganz in der Nähe gab es früher eine Zollstation, während des Nordirlandkonflikts ein beliebtes Angriffsziel der IRA.

Ein Stück weiter nördlich, in der Hafenstadt Warrenpoint, haben die "Troubles" besonders tiefe Wunden gerissen. Im August 1979 verübte die IRA dort einen Bombenanschlag auf einen britischen Militärkonvoi, sechs Soldaten starben. Als sich daraufhin Verstärkung in einem Schuppen verschanzte, sprengte die IRA auch diesen, weitere zwölf Soldaten kamen ums Leben. Es mag auch an dieser Geschichte der Gewalt liegen, dass sich im Grenzgebiet besonders viele Menschen dafür ausgesprochen haben, in der EU zu bleiben. Im Wahlkreis South Down, zu dem auch Warrenpoint gehört, stimmten mehr als doppelt so viele für den Verbleib wie für den Brexit.

Zu Zeiten des Nordirlandkonflikts, der das Land von 1969 bis 1998 erschütterte und bis heute prägt, wurden die 500 Kilometer, die den Süden vom Norden trennen, streng kontrolliert. Soldaten patrouillierten, Autos wurden durchsucht, Stacheldraht und Betonsperren blockierten die Übergänge. Auch hier, auf der verlassenen Straße bei Dundalk, gab es immer wieder Sperren, doch sie hielten nicht lange. Schon damals wehrten sich die Menschen gegen diesen Freiheitsentzug, schon damals wollten sie eine offene Grenze. Im Friedensprozess nach dem Karfreitagsabkommen von 1998 wurden die Schranken und Kontrollen nach und nach entfernt. Die Grenze wurde irrelevant.

Mit der Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, hat sich das geändert: Die Grenze ist zum Knackpunkt der Brexit-Verhandlungen geworden. Verlässt das Vereinigte Königreich Binnenmarkt und Zollunion der EU, dann gibt es in Irland eine Außengrenze, die kontrolliert werden muss. Um das zu vermeiden, hat Theresa May vor einem Jahr mit Brüssel den Backstop vereinbart. Er sieht vor, dass das Vereinigte Königreich als Ganzes in der Zollunion der EU bleibt und Nordirland zudem weiterhin die Regeln des Binnenmarkts einhalten muss, bis eine bessere Lösung gefunden ist. Doch die Brexiteers unter den konservativen Tories lehnen diese Notlösung ab, weil London dann keine Handelsabkommen mit dem Rest der Welt vereinbaren könnte. Und die ursprüngliche Idee Brüssels, lediglich Nordirland im Binnenmarkt zu lassen, will die protestantische DUP nicht akzeptieren. Die Unionisten lehnen jeden Sonderstatus für die Provinz ab, weil sie eine Abtrennung vom Königreich fürchten.

Damit ist Dublin in eine unmögliche Situation geraten. Verlässt Nordirland die Zollunion der EU, muss die irische Regierung für Grenzkontrollen sorgen, um den Binnenmarkt zu schützen. Für Irland wäre eine harte Grenze eine Katastrophe. Rund 14.000 Lkw fahren jeden Tag von einer Seite auf die andere, 30.000 Menschen pendeln zur Arbeit. Am härtesten träfe es die Landwirtschaft, rund 37 Prozent der irischen Agrarprodukte werden ins Vereinigte Königreich exportiert. Allein in der Republik bräuchten die Bauern rund eine Milliarde Euro an jährlichen Förderungen, um den Brexit finanziell zu überleben.

Doch ein EU-Austritt der Briten ohne Scheidungsvertrag ist nicht nur für den Handel eine Katastrophe. Zölle, das bedeutet Grenzkontrollen, Schlagbäume und eine Infrastruktur, die wohl nicht lange halten würde. Zollhäuser und Sicherheitspersonal wären ein willkommenes Ziel für die Splittergruppen der IRA.

Brexit bedroht Friedensprozess

Dass sich der Nordirlandkonflikt wiederholt, glauben zwar die wenigsten. Doch reißt eine harte Grenze alte Wunden auf in einer Gesellschaft, die nie wirklich Frieden gefunden hat. Schon die Geburt der britischen Provinz mit der Teilung Irlands 1921 war begleitet von Ausschreitungen und Anschlägen. Später, während des Nordirlandkonflikts, gab es mehr als 3500 Todesopfer. Die Angst vor einem Wiederaufflammen der Gewalt an der Grenze ist groß.

Zwar gibt es seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 keinen Krieg mehr. Doch leben die beiden Bevölkerungsgruppen in Nordirland nach wie vor getrennt voneinander. So gibt es in Belfast heute zwei Mal so viele "Peacewalls" wie während der Troubles. Die Mauern trennen katholisch-republikanische Viertel von protestantisch-unionistischen, rund 95 Prozent der Kinder besuchen getrennte Schulen. Die EU hat die beiden Länder zusammengeführt und eine wichtige Rolle im Friedensprozess gespielt. Der Brexit bedroht all das.

Auch John Finucane, Bürgermeister von Belfast, warnt vor neuen Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen in Nordirland. Die IRA-Splittergruppen hält der Sinn-Féin-Politiker für eine reale Gefahr, zudem rüttle der Brexit an den Identitäten der Menschen. Eine Grenze würde einen tiefen Graben zwischen den Iren im Norden und ihrer kulturellen Heimat im Süden schaffen.

Finucanes Vater war Katholik, die Mutter Protestantin. Mit seinen 40 Jahren ist der Bürgermeister alt genug, um sich an den Nordirlandkonflikt zu erinnern. Er war dabei, als protestantische Paramilitärs seinen Vater Pat erschossen, einen bekannten Menschenrechtsanwalt.

Seinen Ursprung hat der Nordirlandkonflikt in der Diskriminierung der Katholiken. Als eine Bürgerrechtsbewegung 1967 dagegen auf die Straße geht, schlägt die unionistische Provinzregierung die Proteste gewaltsam nieder. Bei Straßenschlachten gibt es die ersten Toten, loyalistische Paramilitärs und Polizei arbeiten zusammen und vertreiben hunderte Katholiken aus ihren Häusern. Der Konflikt eskaliert 1972, als britische Fallschirmjäger 14 unbewaffnete Zivilisten erschießen. Getrieben vom Zorn der Katholiken findet die IRA zurück zu alter Stärke. Als Rache für den "Bloody Sunday" zündet sie an einem einzigen Tag 20 Bomben in Belfast. Es ist ein Blutbad, neun Menschen sterben, 130 werden zum Teil schwer verletzt. Doch auch die Unionisten haben ihre Paramilitärs: Mit dem Bombenanschlag auf Dublin und Monaghan mit 34 Todesopfern trägt die Ulster Volunteer Force den Konflikt 1974 erstmals über die Grenze. Bis heute gibt es in Nordirland kaum jemanden, der nicht persönlich vom Konflikt betroffen ist, der keine Schwester verloren hat oder einen Onkel, Vater, Bruder. Es ist ein fragiler Frieden, der schnell wieder vorbei sein kann.

Dem republikanischen Bürgermeister von Belfast wäre es selbstverständlich am liebsten, es gäbe gar keine Grenze. Finucane nervt sogar die automatisierte SMS, die auf seinem Handy erscheint, wenn er über die Grenze fährt. Die Sinn Féin, bis zum Ende der Troubles der politische Arm der IRA, spricht sich heute gegen Gewalt aus. Die alten Ziele sind aber dieselben. So nehmen die Republikaner den Brexit zum willkommenen Anlass, noch lauter nach einer Wiedervereinigung mit Irland zu rufen - ein Horrorszenario für die DUP, der die Union mit Großbritannien heilig ist.

Dublin als einziger Fürsprecher

Seit dem Karfreitagsabkommen müssen sich Republikaner und Unionisten die Macht im nordirischen Parlament teilen, doch Stormont steht seit zweieinhalb Jahren leer. Letztendlich war es ein Skandal um ein Energieförderprojekt, der die Regierung zu Fall brachte. Zerrüttet war das Verhältnis aber schon zuvor gewesen. Auch heute, wo Nordirland im Brexit-Streit zerrieben wird, reden DUP und Sinn Féin nicht miteinander. "Mit den Neuwahlen in Großbritannien 2016 hat die DUP einen Hebel bekommen. Seither konzentriert sie sich ganz auf Westminster und redet überhaupt nicht mehr mit anderen", sagt Finucane.

Nach den Wahlen von 2016 wurde die DUP zum Königsmacher für die Tories, Premierministerin May war auf die zehn Abgeordneten aus Nordirland angewiesen. Das schlug sich auch auf die Brexit-Verhandlungen mit Brüssel nieder: Der ursprüngliche Vorschlag der EU, lediglich Nordirland im Binnenmarkt der EU zu lassen, ist mit den Unionisten nicht zu machen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wieso nicht auch die Sinn Féin in Westminster mitbestimmen will - zumindest, bis ein ungeregelter Brexit vom Tisch ist. Die Partei lehnt es seit jeher ab, ihre Sitze im britischen Unterhaus einzunehmen. "Das ist ein zentrales Prinzip der Sinn Féin, gerade jetzt", sagt Finucane. "Außerdem gibt es in Westminster ohnehin keine Möglichkeit, etwas zu ändern." Das darf bezweifelt werden: Einige Abstimmungen im britischen Unterhaus waren äußerst knapp. Hier hätten die sieben Stimmen der Sinn Féin durchaus den Unterschied machen können. Für Sinn Féin aber kann das Parlament in London kein Alliierter sein. "Die Menschen hoffen auf Schutz durch Dublin", sagt Finucane.

Tatsächlich ist Dublin im Streit um die irische Grenze zum wichtigsten Fürsprecher der Provinz im Norden geworden. "In London verstehen viele nicht, wie tief die Wunden sind, die die Grenze bei den Menschen hinterlassen hat", sagt der irische Außenminister Simon Coveney. Boris Johnsons Vorgängerin Theresa May habe noch verstanden, wie komplex die Grenzfrage ist. "Heute hat Großbritannien einen Premier, der den Backstop streichen will, ohne echte Alternativen auf den Tisch zu legen."

Der Ton, den Coveney im Gespräch mit den Journalisten gegenüber London anschlägt, ist ungewohnt rau. Das Bedauern um den EU-Austritt der Briten ist dem Zorn über die Politiker in London gewichen. Der Brexit belastet die Beziehungen zwischen London und Dublin schwer, das Verhältnis zwischen den Nachbarn ist schlecht wie schon lange nicht mehr. "Wir werden keinen Deal unterschreiben, der auf der Basis einer Lüge oder eines Bluffs entstanden ist", sagt Coveney. Während die Streitereien in London, die Unsicherheit, das ewige Hin- und Her für Kopfschütteln in Brüssel, Berlin und Paris sorgen, ist der Brexit in Irland zum Psychodrama geworden.

Zwei Grenzen statt einer

Für die Regierung in Dublin ist der letzte (und streng genommen auch erste) Vorschlag des britischen Premiers eine Verhöhnung. Johnson will, dass in Nordirland für Waren, Lebensmittel und Nutztiere weiterhin EU-Regeln gelten - zumindest bis 2025. Die Zollunion würde die britische Provinz aber gemeinsam mit Großbritannien verlassen.

Grenzkontrollen wären damit nicht gebannt, im Gegenteil: Zusätzlich zur inneririschen Grenze müsste auch auf der Irischen See, also zwischen Nordirland und Großbritannien, kontrolliert werden. Die Antwort Coveneys auf Johnsons Vorschlag überrascht wenig: Wenn es dabei bleibt, so der Außenminister, dann laufe es auf einen EU-Ausstieg Großbritanniens ohne Vertrag hinaus. Immerhin eine überraschende Wendung trifft in Dublin auf Wohlwollen: Johnson ist nun bereit, den Brexit noch einmal zu vertagen, falls es bis zum 19. Oktober zu keiner Einigung mit der EU kommt. Gelöst wäre damit freilich nichts - sondern lediglich verschoben.

Gespaltene Gesellschaft

In Nordirland wächst mit der Unsicherheit auch der Zorn. Viele Menschen fühlen sich verraten und alleingelassen, ungehört und unverstanden. Zumindest dieses Gefühl scheint die beiden Bevölkerungsgruppen zu einen. Ansonsten ist das Land auch 20 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen tief gespalten. So etwas wie eine nordirische Identität gibt es hauptsächlich in der Mittelschicht. Die meisten sind entweder das eine oder das andere: irisch oder britisch, katholisch oder protestantisch. Mit dem Brexit ist diese Frage noch zentraler geworden.

"In der Schule haben wir nur über unsere eigene Community gelernt", sagt auch James. Der 27-Jährige ist vor vier Jahren zum Verein "Springboard" in Belfast gekommen, der junge Leute aus beiden Bevölkerungsgruppen zusammenbringt und ihnen neue Perspektiven bietet.

Bis dahin hat James, der auf eine katholische Schule ging, kein einziges Mal mit einem Protestanten gesprochen. "Bei Springboard habe ich verstanden, dass die anderen genau die selben Probleme haben wie wir", sagt James. Heute arbeitet er selbst im Verein, bringt Jugendliche zusammen, die sich sonst nie getroffen hätten. Streit gibt es immer wieder. "Lösen können wir das nur, wenn wir miteinander sprechen." James versucht auch, innerhalb seiner Familie Bewusstsein zu schaffen. Einfach ist das nicht, denn viele können nicht vergessen, was die andere Seite ihnen angetan hat. Der Nordirlandkonflikt, die Gewalt und der darauffolgende, stockende Friedensprozess haben den Menschen viel abverlangt.

Mit der Frage der Journalisten, was der Brexit und die Gefahr einer Grenze für sie bedeuten, können die jungen Menschen bei "Springboard" nichts anfangen. Sie haben genug damit zu tun, etwas am Status quo zu ändern: Vorurteile abbauen, Kontakte zu den anderen knüpfen und Beziehungen zur Republik im Süden aufbauen. Eine harte Grenze droht auch diese kleinen Erfolge zunichtezumachen.

Die Reise erfolgte auf Einladung der EU-Kommission.