Hartnäckig hält sich das Gerücht, zur Klostermedizin sei schon alles geschrieben. "Fast nichts von der mittelalterlichen Medizin ist wirklich aufgearbeitet", widerspricht Johannes G. Mayer, Historiker und Philologe an der Universität Würzburg: "Selbst von dem berühmten medizinischen Werk der Hildegard von Bingen gibt es keine zuverlässige Ausgabe." Der riesige Schatz mittelalterlichen Heilpflanzenwissens ist tatsächlich noch weitgehend unberührt.
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Das will die "Forschergruppe Klostermedizin" gründlich ändern. Sie wurde im Vorjahr von der Universität Würzburg und einem großen Pharmaunternehmen ins Leben gerufen. In ihr arbeiten unter der Leitung des Medizinhistorikers Gundolf Keil Historiker, Philologen, Mediziner, Chemiker und Pharmazeuten zusammen.
Getrieben sind sie nicht nur von historischem, sondern auch medizinischem Interesse. Das alte Wissen soll in die Entwicklung neuer Medikamente einfließen. Mayer ist Koordinator und für das Entziffern der lateinischen und griechischen Handschriften zuständig. Ehe man altes Wissen nutzen kann, muss es erst analysiert werden.
Dabei stießen die Forscher auf allerlei Missverständnisse und Schreibfehler, die sich über Jahrhunderte hartnäckig gehalten hatten. Dass eine Reihe von Verwirrspielen nach so langer Zeit aufgeklärt werden konnte, ist die erste Frucht einer riesigen Datenbank, die in den vergangenen Jahren erarbeitet wurde. Sie hält fest, welche Pflanze von welchem mittelalterlichen Autor mit welchem Namen benannt wurde.
Eine detektivische Kleinarbeit, wenn man bedenkt, dass die heute gebräuchlichen botanischen Namen ausgehend von Carl von Linne erst in den vergangenen 300 Jahren vergeben wurden. Zudem haben die Autoren des Mittelalters Pflanzennamen nicht einheitlich benutzt. So taucht in mehreren klostermedizinischen Werken der Name "Sonnenbraut" auf. Je nach Autor ist damit die Wegwarte, der Löwenzahn oder die Ringelblume gemeint.
Dank der Würzburger Datenbank können die Texte nun verglichen und die Pflanzen eindeutig zugeordnet werden. Mehr als 450 Heilpflanzen umfasst die Datenbank bis heute. "Alle Werke der Klostermedizin sind jetzt eingetragen," so Mayer voller Stolz.
Aus diesem Schatz an Wissen lässt sich auch heute noch schöpfen, glaubt John M. Riddle, Präsident des American Institute for the History of Pharmacy. Die Heilkundigen des Mittelalters seien gute Beobachter gewesen, die sich keineswegs nur an die Theorien antiker Ärzte gehalten hätten.
"Sie schrieben meist sofort und mit echter wissenschaftlicher Begeisterung auf, welche eigenen Erfahrungen sie gemacht hatten", so Riddle. Manches von dem, was die moderne Medizin "entdeckte", sei schon vor Hunderten von Jahren in den Klöstern beobachtet worden. Und noch immer gibt es Überraschungen für den modernen Pharmazeuten.
Als Beispiel nannte der amerikanische Wissenschafter das Johanniskraut. Heute wird es fast ausschließlich gegen leichte Depressionen eingenommen. Das Mittelalter nutzte dessen Inhaltsstoffe Hyperforin und Hypericin auch für viele andere Zwecke - aber keineswegs gegen die "Melancholie".
"Wusste man im Mittelalter tatsächlich mehr über die medizinischen Effekte dieser Pflanze als heute?", fragte Riddle. Und wenn ja - wird Johanniskraut eines Tages dem modernen Menschen bei anderen Beschwerden helfen?
Nur eine genaue pharmazeutische Prüfung der Heilpflanzen könne darauf Antwort geben, betonte Christine Nicolai, Apothekerin und Referentin beim deutschen Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie. Die mittelalterlichen Rezepturen kritiklos zu übernehmen, könnte fatale Folgen haben, wie sie am Beispiel der Hildegard von Bingen nachwies.
Die berühmte Heilerin hatte Christrose und Schwarzen Nieswurz gegen Gicht empfohlen, was wegen des hohen Glykosidgehaltes theoretisch auch richtig ist. Allerdings sind beide auch äußerst giftig, weshalb sich eine weitere Forschung bei diesen Pflanzen verbietet.
Das Pharmaunternehmen "Abtei" will als Kooperationspartner der Würzburger Wissenschaftler deren Erkenntnisse nach und nach in neue Produkte umsetzen. Außerdem hat die "Forschergruppe Klostermedizin" schon einen begehrlichen Blick über die europäischen Grenzen hinaus geworfen, warten doch in Arabien und China weitere Heilpflanzen auf ihre Neuentdeckung.