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Joseph Roth schrieb einst über sich, dass es, wo er schreibe, radikal würde, "so wie es überall kühl wird, wo ein Wind weht". Seinen Büchern, in denen er sich bemühte, "das Unsagbare dieser Welt sagbar zu machen", hat solch Radikalismus nicht geschadet. Ähnliches ließe sich auch über den deutschen Historiker Götz Aly sagen: Wo der Wahlberliner schreibt, wird es radikal, an die Wurzel gehend - also interessant.
Und mit der Sagbarmachung des Unsagbaren ist Aly ohnehin auf Du und Du: Seine Bücher handeln meist vom Mord an den europäischen Juden. In seinem neuesten Werk fragt der streitbare Historiker, der zuletzt mit einem kritischen Buch über 1968 für Aufsehen gesorgt hat: "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" - die Antwort lautet, kurz gefasst: Der Neid war’s. Aly sieht auch im damaligen deutschen Antisemitismus jene Todsünde am Werk, die "anders als Wollust, Völlerei, Hoffahrt, Habgier, Zorn oder Faulheit überhaupt keinen Spaß macht".
"Kampf um das Dasein"
Wer nun meint, es handle sich bei dem Buch um den platten Versuch, komplexe Zusammenhänge auf eine menschliche Untugend zurückzuführen und mittels einer eingängigen, schnell hingeworfenen These Geld zu verdienen, der irrt. Alys Begründungen sind luzide und facettenreich; seine Quellenfunde ebenso zahlreich wie eindringlich. Die Geschichte beginnt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, als sich die "Welt der Zünfte und Stände, der Pfarrhäuser und Patrizier, des Gesindes und Adels" verabschiedete. Die meisten Deutschen empfanden den mit der industriellen Epoche eintretenden Wandel als Verlust althergebrachter Sicherheiten. Anders die nun rechtlich zunehmend gleichgestellten Juden: Sie hatten in der alten Welt nichts zu verlieren.
Während in christlichen Familien die Anschauung, wonach Lesen die Augen verdirbt, weit verbreitet war, wetteiferten die dem Ghetto entronnenen Juden im Hunger nach Bildung: Im Jahr 1901 erreichten in Preußen 7,3 Prozent der christlichen Kinder einen höheren Schulabschluss als die Volksschule, aber 56,3 Prozent der jüdischen. Juden erreichten zu dieser Zeit ein fünfmal so hohes Durchschnittseinkommen wie Christen. Das zog Neid auf sich: So schrieb der preußische Hofprediger Adolf Stoecker 1880, dieser "Trieb nach höherer Ausbildung" verdiene an sich höchste Anerkennung - "nur bedeutet er für uns einen Kampf um das Dasein in der intensivsten Form. Wächst Israel in dieser Richtung weiter, so wächst es uns völlig über den Kopf."
Solche Beispiele, die von Gefühlen erzählen, die jedem vertraut sind, und von politischen Motivationen, die man gut kennt, schmerzen naturgemäß nachhaltiger als Abhandlungen über Ideologie oder mühsam bewegte Bilder in Schwarzweiß. Aly deutet das Alltagsgesicht der abstrakten Begriffsmonstren Antisemitismus und Rassismus als eine Art Flucht der individuell Unterlegenen in die kollektive Überlegenheitsgeste, nach der Art: Wenn wir den geistesgegenwärtigeren Juden schon unterlegen sind - als Kollektiv, als Volk sind wir, die "Tiefsinnigen", mehr wert. Nationalismus paarte sich mit Sozialismus.
Mit Vorliebe weist Aly darauf hin, dass sich Gutes und Böses in der deutschen Geschichte nicht fein säuberlich trennen lassen - so war es etwa ein Vertreter des Polizeistaates wie Metternich, der die Judenemanzipation verteidigte, während sich demokratisch Bewegte oft antisemitisch äußerten. Auch Adolf Stoecker trat für ein demokratischeres, allgemeines Wahlrecht ein. Am Ende seiner Schrift über die Juden stand, fett gedruckt: "Bitte, etwas mehr Gleichheit!" Gemeint war nicht Gleichheit vor dem Gesetz, sondern die Bändigung der offensichtlich Tüchtigeren von Staats wegen zugunsten vermeintlich Benachteiligter. Aly nennt es so: "Die Schwachen sind die Gefährlichen." Sein Buch ist anstößig im besten Sinn, liefert Denkanstöße in viele Richtungen und damit deutlich mehr als die meisten Arbeiten zum Thema.
Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass. 1800-1933. S. Fischer Verlag, 351 Seiten, 23,60 Euro.