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"Am Anfang steht immer Despotismus"

Von Siobhán Geets aus Jerewan

Politik

Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi über Syrien, Flüchtlingskrise und die Ängste der Europäer.


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"Wiener Zeitung": Bei Ihrer Rede anlässlich des Aurora Preises für Menschlichkeit in der armenischen Hauptstadt Jerewan sprachen Sie über die Ursachen des Syrien-Krieges. Sie machen vor allem Despotismus dafür verantwortlich.

Shirin Ebadi: Allem Übel in dieser Region liegt der vorherrschende Despotismus zugrunde. Die Assad-Familie herrscht schon viele Jahre in Syrien. Die Menschen wurden immer verzweifelter, schließlich erhoben sie sich zum Aufstand. Und das waren damals keine Terroristen. Was machte Baschar al-Assad? Er ließ trotzdem auf die Menschen schießen, auf seine eigenen Bürger.

Ihr Geburtsland war von Beginn an involviert.

Als Iranerin fühle ich mich besonders betroffen. Die Regierung in Teheran hat Assad von Anfang an unterstützt. Waffen, Geld und Soldaten aus dem Iran hielten ihn an der Macht - und unterstützten ihn bei den Massakern an seinem Volk. Dann setzte Assad seine Alliierten von der libanesischen Hisbollah in Gang. Es war die Einmischung des Iran, die zum Bürgerkrieg in Syrien führte. Nur so konnte das politische Vakuum entstehen, das terroristische Organisationen nutzten, um die syrische Zivilbevölkerung anzugreifen. Innerhalb kürzester Zeit war das Gleichgewicht einer ganzen Region aus den Fugen geraten. Doch am Ursprung steht immer der Despotismus, in diesem Fall die Willkürherrschaft der Assad-Familie. Genau das wird uns die Geschichte lehren.

Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten der jetzigen Syrien-Friedensgespräche ein?

Als sehr gering. Die Angriffe der syrischen Armee erschweren sie zusätzlich. Hinzu kommt, dass die Zivilgesellschaft eine stärkere Rolle bei den Friedensgesprächen spielen muss. Es liegt an den Vereinten Nationen, das durchzusetzen. Zurzeit sind es Gespräche zwischen den großen Kräften. Die Syrer selbst werden beiseite geschoben, stumm gehalten.

Welche Rolle können Frauen im syrischen Friedensprozess spielen?

Eine große, wenn man sie nur ließe. Die Männer kämpfen um Macht, um Reichtum. Die Frauen sind es, die leiden. Sie verlieren ihr Zuhause, ihre Familien, ihre Kinder. Genau deshalb legt Resolution 1325 der UN-Generalversammlung fest, dass Frauen eine wichtigere Rolle in den Friedensgesprächen spielen sollen. Doch das ist bisher nicht der Fall. Die UN müssen die Verhandlungsparteien dazu bringen, Frauen mehr Teilhabe an den Gesprächen einzuräumen.

Wie könnte es denn weitergehen?

Mittelfristig muss der Krieg enden. Ohne Frieden gibt es keine Hoffnung für diese Menschen. Doch zuallererst müssen die Flüchtlingslager in der Region besser ausgestattet werden. Sie sind oft in einem erbärmlichen Zustand. Es fehlt an allem. In einigen dieser Lager in der Türkei, im Libanon und in Jordanien gibt es kein Trinkwasser, nichts zu essen und keine Schulen für Kinder.

Wie wirkt sich das auf die Region aus?

So etwas hält keiner lange aus. Also flüchten die Menschen. Sie nehmen dabei sogar den Tod in Kauf. Nur um rauzukommen, um Europa zu erreichen. Die Aufnahmekapazität Europas ist aber begrenzt. Demnach müssen diese Flüchtlingscamps so schnell wie möglich mit allem Nötigen ausgestattet werden. Das alles unter der Aufsicht zuverlässiger, vertrauenswürdiger, der Korruption unverdächtiger Organisationen. Nur so können die Menschen länger dort bleiben. Auch die wohlhabenden Staaten der Region müssen endlich Verantwortung übernehmen. Sie sollen Flüchtlingen Asyl gewähren. Und die Flüchtlingscamps finanzieren helfen.

Die Golfstaaten sind bisher nicht gerade durch Großzügigkeit aufgefallen . . .

Es ist traurig, aber sie haben bislang ihre Augen vor dem Schicksal ihrer Nachbarn verschlossen. Katar hat eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt, doch bis jetzt nichts getan, um Flüchtlingen zu helfen. Die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar und Kuwait brauchen ausländische Arbeitskräfte, holen sie aber aus Bangladesch oder Indien. Ich frage diese Länder also: Wieso erlaubt ihr den Flüchtlingen nicht, in eure Länder zu kommen? Sie können dort für euch arbeiten. Sie haben dieselbe Religion und Sprache wie ihr. Und trotzdem: Für diese Flüchtlinge bleiben die Grenzen geschlossen.

Was kann der Westen tun?

Der Westen muss zuallererst damit aufhören, Waffen nach Syrien und in die Region zu liefern. Syrien und der Mittlere Osten sind von Waffen überschwemmt worden. Ich hoffe sehr, dass der Westen nicht nur kurzfristig handelt, also Profit aus Waffenverkäufen macht, sondern darüber hinausdenkt. Und die langfristigen Auswirkungen dieser Waffenlieferungen auf die Region und auf den Westen nicht vergisst.

In vielen Ländern Europas haben die Menschen Angst vor der Religion, vor den Werten, die die vielen Flüchtlinge mitbringen. Was würden Sie diesen Menschen raten?

Die westlichen Länder müssen den Flüchtlingen zuallererst Kultur und Sprache ihres Landes beibringen. Ein Beispiel: Die Flüchtlinge müssen lernen, dass häusliche Gewalt, auch eine Ohrfeige, in Europa eine Straftat ist. Frauen aus dem Mittleren Osten müssen wissen, dass es für sie sichere Orte gibt, wo sie unterkommen können, dass sie häusliche Gewalt anzeigen können. Und das ist nur ein Aspekt unter vielen. Flüchtlinge müssen über westliche kulturelle Standards und Gepflogenheiten aufgeklärt werden. Gleichzeitig dürfen sie aber nicht erniedrigt werden. Der Westen sollte sie freundlich und verständnisvoll empfangen. Flüchtlinge wollen im Westen nicht nur etwas zu essen, sie suchen Menschlichkeit.

Bereitet Ihnen die politische Entwicklung in der Türkei Sorgen?

Die Demokratie in der Türkei erlebt gerade einen herben Rückschlag. Schauen Sie nur auf das Fiasko im Parlament mit der Immunitätsaufhebung für pro-kurdische Abgeordnete. Oder auf die Grausamkeiten gegen die eigene kurdische Bevölkerung. Ich hoffe sehr, dass die Türkei auf den Weg der Demokratie zurückfindet, den sie ja eingeschlagen hatte.

Nach der Verleihung des Nobelpreises mussten Sie nach London ins Exil. Hat sich nach der Öffnung des Iran etwas für Sie geändert?

Leider hat sich nichts getan im Iran. Auch für mich nicht. Schlimmer noch, ich habe im Iran eine NGO, die sich für Frauenrechte einsetzt. Meine Assistentin, die bekannte Feministin Narges Mohammadi, wurde zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt - weil sie meine Assistentin ist und wegen ihrer feministischen Aktivitäten. Seit einem Jahr ist sie im Gefängnis. Obwohl sie krank ist, versagt man ihr jegliche medizinische Behandlung. Trotz alledem hat sie aus dem Gefängnis heraus eine Kampagne gestartet, um inhaftierten Müttern zu erlauben, wenigstens für ein paar Minuten am Tag mit ihren Kindern zu telefonieren. Die Kampagne wurde sehr schnell sehr bekannt, nicht nur im Iran, und erhält demnach viel Unterstützung. Und was passiert im Iran? Gegen Narges wurden weitere Verfahren eröffnet und es gab ein neues Urteil - zu nun 16 Jahren Haft. Zehn zusätzliche Jahre wegen dieser Aktivitäten! Diese Strafe ist so absurd und ungerecht, dass sogar der UN-Beauftragte für Menschenrechte dagegen protestierte. Das alles passierte erst vergangene Woche. Und solche Fälle gibt es viele im Iran. Es gibt also keine Veränderung, weder bei den Menschenrechten noch für mich persönlich.

Zur Person
Shirin Ebadi, geboren 1947 in Hamadan, war erste Richterin im Iran. 2003 wurde ihr als erste muslimische Frau der Friedensnobelpreis verliehen. Ebadi war in ihrer Heimat zahlreichen Repressionen ausgesetzt. 2000 wurde sie wegen ihrer Rolle als Verteidigerin von Dissidenten angeklagt und erhielt Berufsverbot auf Zeit sowie eine Bewährungsstrafe. Seit 2009 lebt sie im Exil in Großbritannien. Im März erschien ihr neues Buch "Until we are free. My fight for human rights in Iran". In der armenischen Hauptstadt Jerewan war Ebadi auf Einladung des "Aurora Preis zur Förderung der Menschlichkeit".