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Am atomaren Abgrund

Von Rolf Steininger

Wissen

Erst im Nachhinein veröffentlichte Dokumente zeigten, wie knapp die beiden Supermächte während der Kuba-Krise vor 50 Jahren an einer Katastrophe vorbeischrammten.


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Um 13 Uhr des 22. Oktober 1962, einem Montag, kündigte der Pressesprecher des Weißen Hauses in Washington für 19 Uhr eine Rundfunk- und Fernsehansprache des Präsidenten von "höchster nationaler Dringlichkeit" an.

Präsident Kennedy beim Besuch eines US-Luftwaffenstützpunktes während der Kuba-Krise.
© © CORBIS

Als John F. Kennedy sechs Stunden später seine Ansprache begann, schauten 100 Millionen Amerikaner zu. Der Präsident teilte etwas Ungeheuerliches mit: Die Sowjetunion habe Atomraketen auf Kuba stationiert. Jede dieser Raketen könne die meisten großen Städte der westlichen Hemisphäre treffen. Dies sei eine explizite Bedrohung für den Frieden und Sicherheit aller Amerikaner.

Kennedy kündigte eine "Quarantäne" an, eine Blockade gegen alle Schiffe, die offensiv-militärisches Material nach Kuba bringen wollten. Dann machte er unmissverständlich klar: Sollte auch nur eine Rakete von Kuba aus abgeschossen werden, werde dies als ein Angriff der Sowjetunion auf die Vereinigten Staaten angesehen und zu einem massiven Vergeltungsschlag gegen die Sowjetunion führen.

In Alarmbereitschaft

Für die amerikanischen Streitkräfte galt ab sofort weltweit Alarmstufe 3, für das Strategische Luftwaffenkommando wurde das am 24. Oktober auf die Alarmstufe 2 angehoben - dies zum ersten und bis heute einzigen Mal in der US-Geschichte (Alarmstufe 1 bedeutet Atomkrieg). Das hieß: 204 Interkontinentalraketen im Westen der USA wurden für den Start vorbereitet, 12 U-Boote mit 140 Polarisraketen an Bord an die Küsten der Sowjetunion beordert, weitere 220 Raketen auf fünf Flugzeugträgern einsatzbereit gemacht; 62 B-52 Bomber mit 196 Wasserstoffbomben an Bord waren nun ständig in der Luft; 628 weitere Bomber mit mehr als 2000 Atombomben waren rund um die Welt in Alarmbereitschaft.

Nach der Entdeckung der sowjetischen Raketen tagte seit dem 16. Oktober in Washington ein kleiner Stab von Experten - Executive Committee oder Excomm genannt - unter Leitung Kennedys in Permanenz. Unbemerkt von den Teilnehmern - möglicherweise mit Ausnahme seines Bruders Robert - hat Kennedy diese Gespräche auf Tonband aufnehmen lassen. 1997 sind sie veröffentlicht worden. Sie machen die ganze Dramatik jener Tage deutlich. Sie zeigen aber auch die zwei Lager in dieser Beratungsrunde, die "Tauben" und die "Falken". Beide Gruppen waren sich in einem Punkt einig: die Raketen mussten weg, so oder so.

Die Militärs plädierten von Anfang an für sofortige Luftangriffe, gefolgt von einer Invasion. Kennedy entschied sich dann für die "Quarantäne", die er am 22. Oktober bekannt gab. Drei Tage später stoppten zwar die sowjetischen Schiffe, aber für die USA war damit das Problem keinesfalls gelöst: An den Abschussrampen auf Kuba wurde nämlich mit Hochdruck weitergearbeitet, und auf amerikanischer Seite gingen die militärischen Vorbereitungen für eine Invasion in Kuba weiter.

Die Stabschefs wollten zwölf Stunden nach einem entsprechenden Befehl des Präsidenten angreifen. Geplant waren sieben Tage lang massive Luftangriffe - 1091 allein am ersten Tag! - , um die Raketenbasen, das Luftabwehrsystem und sämtliche Flugplätze zu zerstören. Anschließend würde die Invasion mit 120.000 Soldaten durchgeführt. Die Marine hatte in den Gewässern rund um Kuba drei Flugzeugträger, zwei schwere Kreuzer und sechs Zerstörer stationiert. Einige Kommandeure spielten dabei mit dem Gedanken, taktische Atomwaffen anzufordern. Bei der Armee lief jedenfalls alles in Richtung militärische Lösung.

Über die Hintergründe der größten Geheimoperation in der Geschichte der Sowjetunion - Atomraketen auf Kuba zu stationieren - lässt sich nach wie vor nur spekulieren. Noch immer sind die Moskauer Archive nahezu unzugänglich. Manches deutet darauf hin, dass es Chruschtschow um den Schutz Kubas vor einer Invasion ging. Damit verbunden war aber auch eine Veränderung des strategischen Kräfteverhältnisses: Mit den geplanten 40 Mittel- und Langstreckenraketen auf Kuba hätte sich die Zahl der sowjetischen Raketen, die die USA treffen konnten, verdoppelt.

Samstag, der 27. Oktober, ist als "Schwarzer Samstag" in die Geschichte der Kubakrise eingegangen. Kubas Führer Fidel Castro befürchtete eine amerikanische Invasion und drängte Chruscht- schow am Morgen dieses Tages, einen Atomschlag gegen die USA zu führen.

Auf Kuba waren inzwischen acht Basen für Mittelstreckenraketen einsatzbereit. Das wussten die Amerikaner, aber sie wussten nicht, dass inzwischen auch die atomaren Sprengköpfe an die Raketen herangebracht worden waren, und zwar in der Größenordnung von insgesamt acht Megatonnen TNT (erst seit 1992 bekannt). Das war so viel Sprengkraft wie alle Bomben, die während des Zweiten Weltkrieges abgeworfen worden waren! Acht weitere Mittelstreckenraketen mit Atombomben standen in Reserve.

Gleichzeitig hatten die Sowjets drei Cruise Missiles mit Atomsprengköpfen - Größenordnung dreimal Hiroshima - gegen die amerikanische Marinebasis Guantanamo auf Kuba in Stellung gebracht und zum Abschuss vorbereitet. Auch das wussten die Amerikaner nicht - und es ist im Übrigen erst seit 2008 bekannt.

Ungeheure Spannung

Dann ging es Schlag auf Schlag. Ein amerikanisches U2-Spionageflugzeug wurde über Kuba abgeschossen und der Pilot getötet. Im Excomm fiel der Satz: "Die Sowjets haben den ersten Schuss abgefeuert." Eine U2 kam über Alaska vom Kurs ab und drang in den sowjetischen Luftraum ein. Die Sowjets mussten vermuten, dass dies ein letzter Spionageflug sein könnte, um die Ziele eines amerikanischen atomaren Erstschlags zu bestimmen. Mit Atomraketen bestückte MIG-Abfangjäger stiegen auf, der US-Verteidigungsminister McNamara schrie: "Dies bedeutet Krieg mit Russland!" Kennedy lapidar: "Irgendein Idiot muss immer alles vermasseln."

Nach dem Abschuss der U2 auf Kuba forderten die Stabschefs, am Sonntag oder Montag einen massiven Schlag gegen sämtliche sowjetische Basen auf Kuba durchzuführen, falls die Raketen nicht vollständig abgezogen würden. Anschließend sollte dann eine Invasion erfolgen. Kennedy widersprach nicht - bei einem Nein drohte ein Absetzungsverfahren.

Die ungeheure Spannung der Situation wurde in dem Gespräch deutlich, dass Robert Kennedy im Auftrag seines Bruders am Abend des 27. Oktober mit dem sowjetischen Botschafter Dobrynin führte. Die Botschaft, die er überbrachte, war einfach und klar: Keine Raketen auf Kuba, dafür keine Invasion! Er machte aber auch deutlich, unter welch enormem Druck sein Bruder stand, denn, so Robert Kennedy: "Es gibt viele unvernünftige Köpfe bei den Generälen, und nicht nur bei den Generälen, die auf einen Kampf brennen."

Gleichzeitig teilte er die Bereitschaft seines Bruders mit, die Raketenbasen in der Türkei abzubauen. Dies dürfe allerdings nicht öffentlich geschehen und nicht offiziell Teil der Vereinbarung sein, dafür benötige man vier bis fünf Monate. Die Zeit dränge, der Präsident brauche eine Antwort bis zum nächsten Morgen. Dies sei "eine Bitte, kein Ultimatum".

Die Antwort kam am Sonntagmorgen. Chruschtschow ließ über Radio Moskau mitteilen, dass die sowjetische Regierung Anweisung erteilt habe, die Raketen auf Kuba zu demontieren, einzupacken und in die Sowjetunion zurückzubringen. Wir wissen heute, wie es dazu gekommen ist. Der KGB in Washington hatte von einer für 12 Uhr angesetzten Pressekonferenz Kennedys berichtet. Für den Kremlchef konnte das nur die Ankündigung der Invasion bedeuten. Er hielt Kennedy für zu schwach, um den Militärs widerstehen zu können. Er befürchtete einen Regimewechsel in Washington mit anschließendem Angriff auf Kuba und atomarem Erstschlag gegen die Sowjetunion. Das musste verhindert werden, die Entscheidung Moskaus noch rechtzeitig Washington erreichen. Deshalb Radio Moskau.

Castro nannte das Verrat und Chruschtschow einen "Bastard". Der aber ließ Castro mitteilen, dass dessen Forderung nach einem Atomschlag gegen die USA außerordentlich alarmierend gewesen sei, denn: "Sie verstehen natürlich, wohin uns das geführt hätte. Es wäre nicht ein einfacher Angriff gewesen, sondern der Beginn eines atomaren Weltkrieges" - und damit der Vernichtung der Sowjetunion.

Kennedy sah in der Öffentlichkeit wie der strahlende Sieger aus, der mit Härte die Krise gemeistert hatte. (Die Schlussfolgerung daraus - man müsse nur hart gegen Kommunisten sein, dann werde man siegen - führte in den Vietnamkrieg.) Dabei war das genaue Gegenteil richtig: Nicht umsonst wurde der türkische Raketendeal jahrzehntelang von den wenigen Informierten bewusst geheim gehalten. Die Raketen in der Türkei unterstanden der NATO, über die Kennedy alleine gar nicht hätte entscheiden dürfen.

"Heißer Draht" in Folge

Was die Krise so gefährlich machte, war das, was die Sowjets wussten und die Amerikaner nicht wussten, und was überhaupt erst 1992 bzw. 2008 bekannt geworden ist. Außer ihren abschussbereiten Raketen hatten die Sowjets nämlich auch 80 taktische Atombomben in der Stärke von jeweils einer Hiroshimabombe auf Kuba stationiert, die im Falle einer Invasion wohl eingesetzt worden wären. Das war die vorrangige Befürchtung Chruschtschows - und hätte wohl den Atomkrieg bedeutet.

Und noch etwas wussten die Amerikaner nicht, als sie im Oktober den Befehl zum Aufbringen sowjetischer U-Boote gaben. Ein US-Zerstörer hätte auf dem Höhepunkt der Krise am 27. Oktober beinahe das sowjetische U-Boot B-59 mit seinem Nukleartorpedo an Bord versenkt. Als die Funkverbindung mit Moskau abbrach, ließ dessen Kommandant nämlich diesen Torpedo zum Abschuss vorbereiten (der dann nicht erfolgte; von Offizieren an Bord verhindert, wie sowjetische Kollegen einer Konferenz 1992 betonten).

Eine Konsequenz aus der Konfrontation vom Oktober war im Sommer 1963 die Einrichtung des "heißen Drahtes", einer direkten Fernschreibverbindung zwischen Weißem Haus und Kreml, und das Abkommen über ein Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser.

Die Kubakrise war der letzte globale Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion. Auseinandersetzungen wurden von nun an auf Ersatzschauplätze verlegt. Das nannte man dann Stellvertreterkriege. Der Kreml zog - nach dem Sturz Chruschtschows 1964 - eine weitere Lehre aus der Krise: Wegen militärischer Unterlegenheit würde man nicht noch einmal nachgeben müssen. Moskau verfolgte ein gigantisches Rüstungsprogramm, das zwar Mitte der siebziger Jahre zum Gleichgewicht des Schreckens führte, die Sowjetunion aber letztlich in allen Bereichen überforderte. Ihr Ende war damit vorprogrammiert.

Rolf Steininger ist emeritierter ordentlicher Professor für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und Autor des Buches "Die Kubakrise 1962: Dreizehn Tage am atomaren Abgrund", Olzog Verlag, München 2011.