Berlin dominiert den europäischen Kontinent wie seit 1945 nicht mehr - und das ist überraschenderweise ganz gut so.
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67 Jahre, nachdem Deutschland den Krieg verloren hat, hat es ihn nun doch irgendwie gewonnen: Es ist der mächtigste Staat Europas, weit vor den einstigen Siegermächten England und Frankreich, und gegen die Deutschen geht kaum noch etwas in der EU. Der Satz "Jetzt wird in Europa deutsch gesprochen" des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder mag überschaubar sympathisch klingen, ist aber zutreffend: Deutschland kann Europa in seit 1945 noch nie dagewesenem Ausmaß dominieren. Selbst die besonnene "Süddeutsche Zeitung" spürt den Atem der Geschichte: "Deutschland könnte in Europa wirtschaftlich das werden, was die USA immer noch für die Welt sind: unvollkommene, ungeliebte, aber entscheidende Macht. Jetzt muss Deutschland führen . . ."
Doch anders als in der Vergangenheit ist das im 21. Jahrhundert keine Drohung, sondern ganz im Gegenteil eine Chance für Europa. So wenig die Welt im 20. Jahrhundert "am deutschen Wesen genesen" konnte und wollte, so sehr ist dies heute ein Stück weit notwendig. Denn der Berliner Hegemon verfügt derzeit über eines der erfolgreicheren wirtschaftspolitischen Betriebssysteme: moderate Defizite des Staates, wettbewerbsfähige Lohnkosten in einer produktiven Industrie und damit niedrige Arbeitslosigkeit. Funktionierte ganz Europa wirtschaftlich so wie Deutschland, dann hätte Europa ein paar Probleme weniger auf der Agenda; vor allem müsste sich in einem derart verfassten Europa niemand Sorgen um die Zukunft der gemeinsamen Währung machen.
Es war in erster Linie genau dieses erfolgreiche ökonomische Betriebssystem, das Deutschland zur neuen Hegemonialmacht gemacht hat - ähnlich wie auf der anderen Seite des Planeten China. Beide haben ihre nunmehrige strategische Dominanz auf vergleichbare Weise erarbeitet: durch eine gesunde Dosis Austerität sowie durch den Verzicht auf übermäßiges kreditfinanziertes Konsumieren und auf (im Vergleich zu den wichtigsten Konkurrenten) weit überzogene Löhne.
Dass die einstige Siegermacht Frankreich hingegen heute wirtschaftlich dramatisch hinter Deutschland zurückgefallen ist und dementsprechend nun auch politisch von Berlin dominiert wird, ist dem gleichen Zusammenhang geschuldet: Frankreich zahlt nun den Preis für Jahrzehnte des Überkonsums, der Arbeitszeitverkürzung, der Schuldenpolitik und der staatlichen Lenkungseingriffe in die Wirtschaft. Wenn Präsident Nicholas Sarkozy jetzt im Wahlkampf explizit ankündigt, sein Land künftig nach dem Vorbild Deutschlands reorganisieren zu wollen, dann belegt das ziemlich drastisch, wer den innereuropäischen Systemwettbewerb gewonnen hat: das deutsche Modell maßvoller Austerität.
Das gilt nicht nur für Frankreich. In ein paar Jahren wird ganz Europa, in wirtschaftspolitischer Hinsicht, ein Stück deutscher geworden sein: mehr finanzielle Disziplin, mehr Kontrollen, mehr Sanktionen. Man mag das als Verlust an europäischer Artenvielfalt bedauern - aber es ist der Preis für die weitere Existenz des Euro, die letztlich von Deutschlands Wohlwollen abhängt.
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