Die Moderne, die universelle Freiheiten und Möglichkeiten eröffnen sollte, hat mit ihren Erfindungen und Errungenschaften oft zu zivilisatorischen Rückschritten geführt. Abgesang auf ein unumkehrbares Projekt.
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"Mission Moderne" war eine große Kunst-Ausstellung (über das Jahr 1912) im Wallraf-Richartz-Museum in Köln im vergangenen Jahr überschrieben. Sie zeigte Werke von Gauguin, van Gogh, Picasso und Munch. Moderne als Monument, als kolossaler Topos.
Moderne ist ein schillernder Begriff. Er klingt fortschrittlich, wegweisend, mächtig. Politiker schreiben sich das Label gerne auf die Fahnen. Der Sozialstaat, heißt es, müsse "modernisiert", d.h. den Gegebenheiten der Globalisierung angepasst werden. Künstler kokettieren ebenso mit dem Attribut "modern". Es gilt als Gegenteil von verstaubt und antiquiert, als ein Zeugnis, das den Zeitgeist atmet. Doch was heißt eigentlich "modern" in diesen turbulenten Zeiten?
Kontrolle der Natur
Der französische Soziologe Bruno Latour sieht das Kernelement der Moderne in der strikten Trennung zwischen Natur und Sozialem. Diese Trennung ist in Wirklichkeit die Dominanz der Gesellschaft, die sich in der Kontrolle der Natur manifestiert. Der moderne Mensch kann mit technischen Mitteln in die Natur eingreifen - ein vormoderner Mensch ist dazu gerade nicht in der Lage. Für die Angehörigen von Naturvölkern ist der gesamte Kosmos belebt, für sie atmet in jeder Pflanze ein Geist, und jede Regel muss den Gesetzen der Natur gehorchen. In der Konsequenz stellt jeder Eingriff in die Natur eine Gefahr für die Gesellschaft dar. Der moderne Mensch kennt dieses Problem nicht. Er hat sich die Natur dienstbar gemacht. Die Natur stellt keine Bedrohung mehr dar.
Doch je mehr sich die Menschen durch die Mittel von Wissenschaft und Technik gegen die Unbilden der Natur zu wappnen versuchen, desto mehr nutzen sie dieselben Mittel, um einander zu töten. Der Urmensch schleuderte einen Stein gegen das Wildvieh oder seinen Widersacher. Der moderne Mensch dagegen nutzt die Feuerwaffe, um Schulklassen niederzumähen oder ganze Völker auszurotten.
Der Genozid ist ein Phänomen der Moderne. Freilich gab es auch schon in der Antike Massaker und Gräueltaten. Die alttestamentarische Logik Auge um Auge, Zahn um Zahn weckt reziproke Rachegelüste und steht einer Versöhnung entgegen. Doch mit den nationalsozialistischen Verbrechen hat der Völkermord eine neue Dimension erreicht. Die Maschinisierung des Mordens macht die Monstrosität der Moderne aus.
Es mutet wie eine böse Ironie der Geschichte an, dass eben jenes Kind der Aufklärung, die Rationalität, die schlimmsten Grausamkeiten gebiert: Toxine, Gase, Atombomben - das sind die Massenvernichtungswaffen, die geeignet sind, die Zivilisation auszulöschen. Innovationen ist immer auch etwas Destruktives inhärent.
Hybride Wirklichkeit
Die Wissenschaft ist bisweilen das Einfallstor für die Barbarei - eben jenen Zustand, den die Moderne zu überwinden trachtet, indem sie die Kraft der Zivilisation entgegensetzt. Bruno Latour zeichnet in seinem Buch "Wir waren niemals modern" nach, wie der Mensch mit der Vakuumpumpe die ersten hybriden Wirklichkeiten schafft. Das Vakuum befindet sich in der Natur, ist aber vom Menschen gemacht. Mensch und Maschine haben damit eine objektiv neue, hybride Wirklichkeit erzeugt. An sich ist das ein Fortschritt. Doch ist das Phänomen erstmal in die Welt gesetzt, lässt es sich nicht mehr fassen. Das Geschöpf wendet sich gegen seinen Schöpfer.
Auch in der Wirtschaft lassen sich derartige Entwicklungen beobachten. Die Finanzkrise ist ein Symptom der Moderne. Investoren ersannen kryptische Kons-trukte wie Collateralized Default Options (CDOs), die Kreditderivate in einem Portfolio bündeln und dessen Tranchen selbst wieder verbrieft werden können. Auch dies sind, wenn man so will, hybride Wirklichkeiten, weil sie ja im alltäglichen Bankverkehr nicht vorkommen und mithilfe einer mathematisierten Methodik von Mensch und Maschine synthetisiert wurden. Derivate haben eigentlich den Zweck, den Emittenten gegen Preisschwankungen abzusichern. Die Risiken sollten gestreut, ergo minimiert werden.
Rasanter Wandel
Der Internationale Währungsfonds war noch 2006 der festen Überzeugung, dass ein "risk spread" das Finanzsystem robuster mache. Wachsame Chronisten wissen, dass die Streuung von Risiken unkontrollierbare Folgeeffekte zeitigte. Der Ausfall der Subprime-Kredite brachte Banken auf der ganzen Welt ins Wanken. Jene Instrumente wie Swaps und Optionen, die eigentlich Sicherheit erzeugen sollten, erzeugten Unsicherheit - und führten das System an den Rand des Abgrunds.
Am Ende durchschaute keiner mehr die hochkomplexen Finanzprodukte. Übereilte Transaktionen, nervöse Märkte, Kurskapriolen an den Börsen - die Finanzmärkte sind zum Vabanquespiel geworden. Sie haben sich verselbständigt. Nichts ist mehr berechenbar. Moderne Gesellschaften gründen auf rasantem Wandel, auf der Wiederkehr von Wachstum und Zerstörung. Risiko ist ihre Entwicklungsvoraussetzung.
Die Krise ist das Menetekel der Moderne. Sie hebt ein sozio-ökonomisches Modell auf den Prüfstand, das auf Rationalität und Risikobegrenzung beruht. Die Gesellschaft ist davon überzeugt, durch die Generierung von Gewissheiten einen stabilisierenden Rahmen zu schaffen. Das soziale Zusammenleben sieht sich aber zunehmend mit Kontingenz konfrontiert. Das heißt: Ängste und Gefahren, Katastrophen und Unglücke, Lebensformen und Praktiken sind nicht mehr durch Ordnungen gerahmt.
Der moderne Mensch, sagt die französische Philosophin Myriam Revault d’Allonnes, lebt in verschiedenen Temporalitäten: Physische Zeit. Psychische Zeit. Arbeitszeit. Reflexionszeit. Das Problem liegt darin, diese Opportunitäten ("Zeitfenster") zu ordnen. Die Technisierung schreitet in ungeheurem Tempo voran und produziert Prozesse, die mit der Taktung der Gesellschaft nicht vereinbar sind. Wir erleben den Zerfall des Zeitlichen.
Das Internet ist das Paradebeispiel dieser Entwicklung. Im digitalen Zeitalter ist die Aktualität schon gar nicht mehr neu, weil sie ständig überholt wird. Das Netz ist, wie die Moderne selbst, ein diffuser Topos. Omnipräsent, aber ohne Leitplanken und Leuchttürme. In seinem Artikel "Modernité et finitude" schreibt der belgische Philosoph Jacques Taminiaux, die Moderne sei "nie bei sich selbst gewesen, gehöre keiner Identität an". Das Dilemma der Moderne ist, dass die Tabubrüche von heute die Konventionen von morgen sind. Die Moderne muss sich darum ständig neu erfinden. Das macht sie zur Getriebenen ihrer eigenen Geschichte. Die Perpetuierung des Neuen, das zwanghafte Ersinnen von noch nie Dagewesenem, entkernt die Nouveauté von ihrem innovativen Gehalt. Erneuerung als Selbstzweck.
Der wissenschaftliche Fortschritt, der immerzu als Legitimation der Moderne angesehen wird, untergräbt in Wirklichkeit das normative Fundament der Gesellschaft. Man kann nicht von einer Fortschrittskultur sprechen. Modernität ist kein Wert an sich. Die bloße technologische Fortentwicklung entbehrt gerade jener Moralität, die man gemeinhin zum Kanon der Kultur rechnet.
Glaube gegen Vernunft
Der Progressivismus leugnet das Vergangene. Die heutige Moderne, sagt der deutsche Rechtsgelehrte Udo di Fabio, sei ein Irrweg, weil sie es versäumt habe, "die gewachsenen Strukturen des Lebens und des Glaubens als eine Quelle andersartiger Vernunft offenzuhalten". Sie habe "Traditionen, Altersvernunft und Lebensklugheit nicht gegen das übermächtige Programm wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Zweckrationalität verteidigt". Moderne wird zu einem Fluchtpunkt blinder Fortschrittsgläubigkeit.
Es war der Kardinalfehler der Moderne, dass sie durch die Säkularisierung - man möchte fast sagen: Profanisierung - Religion und Rationalität für unvereinbar erklärte. Die Moderne hat Glauben gegen Wissen ausgespielt. Der vernunftgeleitete Mensch ist gezwungen, zu verstehen. Dabei gibt es mannigfaltige Phänomene, die sich dem Intelligiblen entziehen. Wie entstand die Erde? Woher kommen wir? Gibt es einen Gott? Elementare Fragen der menschlichen Existenz. Die Trans-zendenz bedarf einer theologisch-philosophischen Fundierung. Der Progressivismus verweigert sich dieser Frage, weil er in der Religiosität ein archaisches Relikt erblickt.
Religion der Moderne
Glaube und Vernunft müssen sich aber nicht ausschließen. Sie bedingen einander vielmehr. So hat schon Kant das Prinzip des "reflektierenden Glaubens" geprägt. Jacques Derrida schreibt in seinem Buch "Foi et Savoir" (Glaube und Wissen), dass die "unbedingte Universalität des kategorischen Imperativs evangelisch" sei. Eine Offenbarkeit, die sich in einer Offenbarung manifestiert. "Das moralische Gesetz schreibt sich in die Tiefe des Herzens wie eine Erinnerung an die Passion ein. Wenn sie (die Moral) sich an uns wendet, spricht sie die Sprache der Christenheit - oder sie schweigt." Die Moral, so Derrida, ist immer religiös konnotiert. Man kann die Moral nicht ihrer religiösen Wurzeln entkleiden.
In Wahrheit hat sich die Moderne nicht von der Religion emanzipiert, sondern eine eigene geschaffen. Der moderne Mensch sitzt in einer Unerlöstheit im Warten auf das Kommende. Der Glaube an den Fortschritt ist das Charakteristikum der Moderne. Und ja, die Moderne hat auch etwas Missionarisches. Dies schlägt sich auch in der Konzeption der Menschenrechte nieder, die naturrechtlichen Vorstellungen entspringen und in einem modernen Gewand kodifiziert wurden.
Der Philosoph Alain Finkielkraut schreibt in seinem Buch "La défaite de la pensée", dass den Menschenrechten ein gewisser Imperialismus inhärent ist. Der Westen, von der Superiorität des Modells überzeugt, will dieses in die Welt exportieren. Nicht, weil die "vormodernen" Völker danach streben. Sondern weil die "gentle civilizer" es für gut befinden.
Frankreichs vormaliger Außenminister und Ministerpräsident Jules Ferry schrieb dem Staat in seiner Rede vom 28. Juli 1885 vor der Nationalversammlung die Aufgabe zu, "die niedrigeren Rassen zu zivilisieren". Diese "mission civilisatrice" mündete in der Unterwerfung fremder Völker. Der Universalismus der Menschenrechte schreit geradezu nach Einmischung - und leistet einem wohlfeilen Interventionismus Vorschub. Davon kündet nicht nur die Kolonialisierung.
Auch in der Neuzeit wurden immer wieder Kriege im Namen der Menschenrechte geführt, wie etwa zuletzt im Irak 2003. Die Bush-Administration, inspiriert von neokonservativen Think-Tanks, versprach, "Frieden und Demokratie" ins Zweistromland zu bringen. Doch das "Geschenk" der Freiheit kam mit blutigen Realitäten: Zehntausende Menschen verloren im irakischen Bürgerkrieg ihr Leben. Der zivilisatorische Anspruch endete in der Barbarei.
Ambivalente Gleichheit
Der Mensch ist von Natur aus ein vernünftiges Wesen. Die Aufklärung hat die Vernunft nicht "gebracht", sondern in den Menschen geweckt. Es war der historische Triumph der Moderne, dass sie den Menschen von den feudalen Fesseln befreite und den Weg in eine egalitäre Gesellschaftsordnung ebnete. "Tous égaux devant la loi", proklamierte die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 in Frankreich. Alle sind gleich vor dem Gesetz.
Doch haben die Verfasser der Deklaration der Ambivalenz des Konzepts nicht genügend Rechnung getragen. Alexis de Tocqueville schrieb: "Ich sehe in der Gleichheit zwei Tendenzen: Eine, die den Geist eines jeden Menschen hin zu neuen Ideen trägt, und eine andere, die sie darauf reduziert, überhaupt nicht mehr zu denken."
Der Materialismus der Moderne hat die Menschen korrumpiert, ihren innersten Idealismus aufgezehrt. In einer Zeit, in der Konsum und Hedonismus zum Ideal erhoben werden, wollen die Menschen vor allem eines: sich selbst verwirklichen. Dieses Streben nach Glückseligkeit ("The Pursuit of Happiness") geht einher mit einer Loslösung von der Gesellschaft. Der Mensch wird zum Solitär. Tocqueville zeigt auf, wie dieser Individualismus zwangsläufig in Isolation mündet. "Die Gleichheit, die den Einzelnen unabhängig macht, lässt ihn isoliert zurück." Soll heißen: Egalität macht einsam. Die Enträumlichung hat eine Sinnleere hinterlassen.
Ohne Kompass
Im Meer der Möglichkeiten, das die Moderne zeitigt, navigieren die Individuen immer schwerer. Ihr Kompass ist verloren gegangen. "Die scheinbar grenzenlose Expansion des Reichs der Freiheit hat zu einer Überforderung der kulturellen Orientierung der Menschen geführt", konstatiert der Schweizer Rechtsprofessor Philippe Mastronardi.
Die Monumentalität der Moderne kann erdrückend sein. Die Moderne, die immer nur nach vorne schaut, verkennt, dass die Individuen selbst eine Geschichte haben. Und diese Geschichte kann uns einholen. Die Vergangenheit kann nicht einfach die Gestalt des Vergangenen einnehmen. Sie strahlt bis in die Gegenwart. Das Alte wird die Menschheit immer begleiten. Bisweilen scheint es, als sei die Moderne auf der Flucht vor ihrem eigenen Werden. Vielleicht ist das der Grund, warum sie gegenwärtig eine museale Würdigung erlebt.
Adrian Lobe, geboren 1988, studiert Politik- und Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg (derzeit an der Sciences Po in Paris) und schreibt für verschiedene Zeitungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.