Gegenseitige Schuldzuweisungen von Opposition und Regierung.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Kiew. Es ist passiert. Worüber in den vergangenen Tagen in der Ukraine spekuliert worden ist, unter anderem von Oppositionschef Vitali Klitschko, ist unerwartet rasch eingetreten. Im Zentrum von Kiew hat es bei den Ausschreitungen zwischen den prowestlichen Demonstranten und den Sicherheitskräften erstmals Tote gegeben - drei laut offiziellen Angaben, der Opposition zufolge kamen fünf Personen ums Leben. Zwei Janukowitsch-Gegner starben durch Schussverletzungen, ein Aktivist starb nach einem Sturz vom Dach des Dynamo-Stadions, als ihn, wie Oppositionelle berichteten, die Polizei gejagt hatte. Er soll zuvor Brandsätze auf Beamte geworfen haben.
Wer geschossen hat, war zunächst unklar. Bereits in den letzten Tagen hatten im Lager der Gegner von Präsident Wiktor Janukowitsch Gerüchte die Runde gemacht, die Regierung hätte auf den Hochhäusern, die die Hruschewskyj-Straße umgeben, Scharfschützen postieren lassen. Diese sollen jetzt erstmals von ihren Waffen Gebrauch gemacht haben. Die Regierung wies das zurück. Janukowitsch gab an, er sei "gegen Blutvergießen, gegen die Anwendung von Gewalt" und ordnete eine Untersuchung an. Die Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" forderte, unberechtigter Waffengebrauch müsse geahndet werden.
"Es ist noch nicht zu spät, den Konflikt auf friedlichem Wege beizulegen", sagte der Präsident. "Ich bitte die Leute, nach Hause zurückzukehren. Wir müssen in der Ukraine Frieden, Ruhe und Stabilität wiederherstellen."
Die Regierungsgegner werden dem Wunsch des Präsidenten wohl nicht nachkommen. Auf einer Pressekonferenz präsentierten traditionell kostümierte Kosaken Patronen, die die Sicherheitskräfte abgefeuert haben sollen. Auch die Opposition im Parlament zeigte sich entsetzt. "Für die Erschießung ukrainischer Bürger werden sich Janukowitsch und Innenminister Vitali Sachartschenko verantworten müssen", teilten die drei Oppositionsparteien in einer gemeinsamen Erklärung mit.
Viele Waffen im Umlauf
Premierminister Mykola Asarow meinte hingegen, "dass die Verantwortung für die Opfer, die es leider bereits gibt", bei den Organisatoren und Teilnehmern der Massenunruhen liegt. "Terroristen vom Maidan" hätten dutzende Menschen umzingelt und geschlagen. "Ich stelle offiziell fest, dass es sich um Kriminelle handelt, die sich für ihre Taten werden verantworten müssen", sagte der Regierungschef.
Es scheint, als wäre mit dem Einsatz von Feuerwaffen in der Ukraine die Büchse der Pandora geöffnet. Lange belächelte Warnungen vor einem Bürgerkrieg werden plötzlich ernst genommen. Bedenklich stimmt, dass die Zahl der Waffenbesitzer in der Ukraine hoch ist. Die Vereinigung ukrainischer Waffenbesitzer sagt, allein in der Hauptstadt seien 400.000 Schusswaffen in den Händen von Menschen - und dies seien nur die registrierten. Die illegalen Waffen seien da noch nicht mitgezählt. Die Zeitung "Segodnja" berichtete unter Berufung auf Händler von einem sprunghaften Anstieg der Waffenverkäufe auf dem Schwarzmarkt. "Ich warne unsere Sicherheitskräfte vor der Anwendung von Waffen gegen das Volk", sagte Georgi Utschaikin, Aufsichtsratsvorsitzender der Ukrainischen Assoziation der Waffenbesitzer. "Wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass wir nach dem ersten Schuss nicht mehr zurück können."
Tatsächlich könnte ein Bürgerkrieg in der Ukraine - falls es wirklich dazu kommt, was immer noch schwer vorstellbar ist - lang und blutig werden: Zwar ist die Ukraine in einen proeuropäischen Westen und einen prorussischen Osten gespalten, eine klare Trennungslinie gibt es aber nicht. Zudem verstehen sich die meisten Bewohner des Landes als Ukrainer, blicken mit der EU und Russland aber in unterschiedliche Richtungen - eine Situation, die Kompromisse eigentlich zwingend erforderlich macht. In den 22 Jahren seit der Unabhängigkeit des Landes hat sich ein fragiles Gleichgewicht herausgebildet, das Janukowitsch mit seiner repressiven Politik gegenüber der Opposition, die nun immer weitreichendere Forderungen stellt, wohl endgültig zerstört hat. Will er nicht seinerseits ins Gefängnis wandern, bleibt ihm jetzt wohl nur noch die Repression. Trotz der düsteren Lage gibt es aber auch noch Hoffnung: Der Präsident traf am Mittwochnachmittag erstmals mit den Oppositionspolitikern Klitschko, Arseni Jazenjuk und Oleh Tjahnybok zu Gesprächen zusammen. Angenähert haben sich die Kontrahenten nicht: Wenn Janukowitsch auch am Donnerstag kein Entgegenkommen erkennen lasse, werde die Opposition in die Offensive gehen, warnte Klitschko.
Barroso "schockiert"
Für große Aufregung sorgten die Ereignisse in Kiew in der Europäischen Union. EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso zeigte sich "sehr schockiert" und will die Beziehungen zur Ukraine überprüfen. "Wir machen uns große Gedanken über die Meinungsfreiheit. Die Medienfreiheit ist stark eingeschränkt", sagte der Portugiese. Polens Außenminister Außenminister Radoslaw Sikorski sagte, die Ukraine entferne sich "eindeutig" immer weiter von Europa.