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Am Spurenlesen gescheitert?

Von Frank Ufen

Wissen

Lange Zeit galten die Neandertaler als extrem behaarte und muskelbepackte Idioten, die in Höhlen hausten, keulenschwingend durch die Gegend liefen und dauernd ihre Artgenossen abschlachteten und auffraßen. Später gelangte man zu der Einsicht, dass man ihre intellektuellen Fähigkeiten wohl unterschätzt hatte und traute ihnen immerhin zu, ihre Toten bestattet und Schmuck hergestellt zu haben. Außerdem wollte man nicht mehr ausschließen, dass sie schon über ein rudimentäres Sprachvermögen und ein vages religiöses Bewusstsein verfügt haben könnten. Trotzdem wurden sie weiterhin als wenig flexible Primitivlinge abgestempelt, die bei der Herstellung von Werkzeugen und Waffen allenfalls dann Fortschritte machten, wenn sie bei Menschen abkupfern konnten.


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Inzwischen ist von der angeblichen technischen, sprachlichen und geistigen Unterlegenheit des Neandertalers immer weniger die Rede. Das vollständig erhaltene Zungenbein eines Neandertalers, das 1983 im israelischen Kebara zu Tage gefördert wurde, lässt darauf schließen, dass seine Zungenmotorik und damit seine Fähigkeit zu artikulierter Sprache ähnlich hoch entwickelt war wie beim heutigen Menschen.

Seine eigentümliche Schädelform deutet darauf hin, dass der Neandertaler in der kognitiven Verarbeitung optischer und akustischer Wahrnehmungen den Menschen deutlich übertroffen hat und dass er in der Dämmerung weitaus besser sehen konnte. Dass er ein geschickter Großwildjäger gewesen ist und dass er von Werkzeugen viel verstanden hat, wird kaum noch bezweifelt. Immerhin hat er mindestens sechzig verschiedene Typen von Steinwerkzeugen angefertigt, und noch erheblich mehr dürfte er aus Holz oder Knochen hergestellt haben. Aber inzwischen weiß man, dass er auch zu bedeutenden technischen Innovationen im Stande war. Kürzlich wurden in Königsaue in Sachsen-Anhalt Birkenpechreste gefunden, die der Neandertaler zur Befestigung von Schäften benutzt haben muss. Welche Technik er bei der Gewinnung des Birkenpechs, die das aufwändige Verfahren der Trockendestillation erfordert, angewendet hat, ist rätselhaft. Aber ohne Zweifel hat er den Klebstoff und noch dazu das Kaugummi erfunden.

Immer noch wird darüber gestritten, ob der Neandertaler als eigene Art betrachtet werden muss oder ob er weiterhin als eine Variante des Homo sapiens sapiens bezeichnet werden darf. Zwar ist es 1997 erstmals gelungen, Mitochondrien-DNA-Bruchstücke aus Neandertaler-Knochen zu gewinnen. Entsprechende mitochondriale DNA-Sequenzen aus der Knochensubstanz anatomisch moderner Menschen, die ein Alter von 30.000 Jahren oder mehr haben, konnten indessen noch nicht geborgen werden.

Schwierig auch, seinen Untergang zu erklären. Es könnte allerdings sein, dass der südafrikanische Ethnologe Louis Liebenberg die Erklärung schon gefunden hat. Liebenberg behauptet, dass es dem Neandertaler zum Verhängnis geworden ist, dass er eine Kunst nur stümperhaft beherrschte, in der die prähistorischen Menschen oft Spezialisten und manchmal regelrechte Virtuosen waren: die Kunst des Spurenlesens.

Tiere können mit Abdrücken, die von Tieren der eigenen oder einer fremden Art stammen, nichts anfangen. Selbst den intelligentesten Menschenaffen gibt es nicht zu denken, wenn sie unvermutet auf die frischen Kriechspuren einer Giftschlange stoßen. Hingegen legen die Angehörigen archaischer Jäger- und Sammlerkulturen oft verblüffende Leistungen an den Tag, wenn es um die detektivische Entzifferung tierischer Spuren geht. Sie können aus unscheinbarsten und flüchtigsten materiellen Spuren, die ein Tier hinterlassen hat, ohne weiteres erschließen, zu welcher Art es gehört, welches Alter und Größe es hat.

Sie können an winzigen Details ablesen, welches Geschlecht es hat, welche und wie viel Nahrung es zu sich genommen hat und ob es sich in guter oder schlechter körperlicher Verfassung befindet. Und häufig können sie nicht nur rekonstruieren, was das Tier in den letzten Tagen getan hat. Sie schaffen es auch, einigermaßen präzise vorherzusagen, welche Laufrichtung es einschlagen und wie schnell es vorankommen wird. Allerdings werden an die Spurenleser derart hohe Anfordnungen gestellt, dass nur wenige die Technik vollkommen beherrschen. Und in der Regel dauert es mehrere Jahrzehnte, um es so weit zu bringen.

Kombinationsvermögen

Das professionelle Spurenlesen verlangt äußerst geschärfte Sinne, eine hervorragende Beobachtungsgabe und ein hoch entwickeltes detektivisches Kombinationsvermögen. Es setzt darüber hinaus fundierte zoologische, botanische, psychologische, geographische und physikalische Kenntnisse voraus. Und schließlich erfordert es zwei grundlegende kognitive Fähigkeiten: Man muss außer induktiven und deduktiven auch abduktive Schlüsse (die nach Charles Sanders Peirce zu Hypothesen über den Einzelfall führen) ziehen können; und man muss in der Lage sein, Hypothesen zu entwickeln, sie gegeneinander abzuwägen und sie auf den Prüfstand zu stellen. Erst diese Fähigkeiten ermöglichen es, auf der Basis von Indizien vom Wahrnehmbaren zum nicht oder nicht unmittelbar Wahrnehmbaren vorzustoßen.

Louis Liebenberg vermutet, dass den Neandertalern das geistige Rüstzeug fehlte, um es mit den prähistorischen menschlichen Jägern aufnehmen zu können. Wahrscheinlich gelang es ihnen zunächst, dieses Handicap durch ihre Körperkraft und die Leistungsfähigkeit ihres Sinnesapparats wettzumachen. Aber mit dem Temperaturanstieg, zu dem es vor etwa 40.000 Jahren in Europa kam, bildete sich der Schnee mehr und mehr zurück. Dadurch erhöhten sich die Anforderungen, die an die Jäger gestellt wurden, beträchtlich.

Jetzt war es erheblich schwieriger, Beutetiere durch das Entziffern ihrer Spuren und Fährten aufzuspüren. Weil es nur selten gelang, das Großwild mit dem Speer oder anderen Fernwaffen auf der Stelle zu töten, kam man oft nicht darum herum, die verwundeten Tiere tagelang zu verfolgen. Weil die Neandertaler nur mäßige Spurenleser waren, zogen sie bei diesen Jagden immer öfter den Kürzeren. Und damit war ihr Schicksal besiegelt.

Schwachstelle

Ob Liebenberg auf der richtigen Spur ist, lässt sich noch nicht entscheiden. Seine Theorie hat jedenfalls einen Nachteil, kann sie doch (noch) nicht schlüssig erklären, warum der Neandertaler unter ähnlichen Umweltbedingungen nicht ebenso die für das Spurenlesen unabdingbaren kognitiven Fähigkeiten ausgebildet hat.