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Am Wahlabend könnten viele Jäger des Hasen Tod sein

Von Markus Kauffmann

Europaarchiv

Es ist absurd: Ein Kanzler, der seine Genossen um ihr Misstrauen bittet, ein Wahlkampf ohne Wahltermin, ein Ex-SPD-Vorsitzender als Totengräber der SPD und eine Union, die vor lauter Muskeln nicht mehr gehen kann. Das ist das politische Deutschland im Sommer 2005, rund zehn Wochen vor einer Bundestagswahl - wenn sie denn kommt.


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Sozialdemokratische Kanzler scheitern an den eigenen Leuten, wie Brandt und Schmidt nun auch Schröder. Das Muster ist immer gleich: Mit der Macht verhält es sich nämlich wie mit einer Geige; man ergreift sie mit der Linken und spielt sie mit der Rechten. Das wurde Schröder zum Verhängnis. Denn mit seiner "Neuen Mitte", mit den ersten deutschen Kampfeinsätzen nach dem Zweiten Weltkrieg, mit Steuergeschenken für Reiche und den Hartz-IV-Gesetzen hatte er die Spagatfähigkeit sozialdemokratischer Muskeln überdehnt.

Die Unternehmer-Beschimpfung ("wie die Heuschrecken") kam zu spät: In das Vakuum auf der Linken war die WASG gestoßen, die der SPD laut Wählerstromanalyse in NRW mehr Stimmen abnahm als die siegreiche CDU.

In den letzten Monaten wurde der Riss immer deutlicher, die Verweigerung häufiger, die Liste der Dissidenten länger: Ottmar Schreiner, Horst Schmidbauer, Klaus Barthel, Fritz Schösser, Sigrid Skarpelis-Sperk, Andrea Nahles, Winfried Hermann, Michael Müller - um nur die prominentesten zu nennen. Fraktionschef Müntefering hatte alle Hände voll zu tun, seine Flöhe im Sack zu halten.

Nicht an der Opposition, an den eigenen Leuten ist Schröder gescheitert. Glaubt man den Auguren und richtet sich nach der aktuellen Stimmung, könnte dies das Ende der Ära Schröder und der ersten rot-grünen Bundesregierung gewesen sein.

Doch so absurd wie das erwünschte Misstrauen, so absurd ist die strategische Lage. Blitzartig hat sich ein "Bäumchen, wechsle dich" vollzogen, ein atemberaubender Rollentausch zwischen den Großparteien. Pendelt die SPD mit plus/minus 25 Prozent weit außerhalb der Gefahr, Wahlversprechen einhalten zu müssen, so steht die Union knapp davor, Schröders Süppchen auslöffeln zu dürfen. Für die Partei-Strategen hat das nur eine einzige Konsequenz: Während die SPD ein klar linkes, oppositionelles Programm vorlegen kann, muss die Union wohl oder übel schwammig bleiben. Münteferings Strategie ist darauf ausgerichtet, die Union auf Hartz IV, dem sie ja zugestimmt hatte, allein sitzen zu lassen.

Die 47 Prozent, auf denen die Union im Moment (noch?) schwebt, sind nur "konjunkturell", also instabil, während die SPD auf ihre - strukturelle - Stammwählerschaft geschrumpft ist.

Freilich ist die SPD auf ihrem wiederentdeckten Linkskurs nicht allein. Es gehört zu den Absurditäten dieses Sommers, dass sie dabei mit Freund und Ex-Freund um die Wette rennen muss. So will der Noch-Koalitionär, die Grünen, sein "Profil als moderne Linkspartei" (Parteichef Reinhard Bütiköfer) schärfen. Die SPD sei zu "strukturkonservativ". Doch in dieser Ecke will sich das neue Linksbündnis aus Lafontaines WASG und Gysis PDS nicht verdrängen lassen: "Wir sind die einzige Partei gegen Hartz IV und die Agenda 2010. Wir sind die einzigen, die Widerstand gegen den Sozialabbau leisten". Und das ist nicht gelogen.

Demoskopen sehen die neue Linkspartei bereits bei elf Prozent bundesweit, fast doppelt so viel wie bei ihrem Start im Juni. Und laut Emnid habe sie in den Neuen Bundesländern die SPD auf den dritten Platz verwiesen.

Am einfachsten haben es noch die Liberalen: Sie liegen seit langem bei ihren sieben Prozentpunkten mit beruhigend schmalen Schwankungsbreiten. Mit ihrem klientelbezogenen, neo-liberalen Wirtschaftskurs greifen sie nicht mehr - wie eins Jürgen Möllemann - nach den Sternen, sondern nur nach dem Außenamt. Das einzige, was sie mit anderen Parteien verbindet, ist das Ziel, der Union möglichst viele ("Leih"-)Stimmen wegzunehmen.

Für die Union ist die Pole-Position eher ein Handikap: Absolute Mehrheiten sind faktisch nicht mehr "drin", jedes Promille, das im Wahlkampf verloren geht, wird als Trend gedeutet werden, scharfe Konturen und ein tiefes Profil wird man sich als Volkspartei nicht leisten können, es gibt so gut wie keine Gestaltungsspielräume mehr (nahezu 80 Prozent aller Steuereinnahmen sind für nichtproduktive Zwecke gebunden), rechts ist bei fünf Millionen Arbeitslosen nichts zu gewinnen und links herrscht Gedränge.

Nun muss Profillosigkeit nicht unbedingt zur Erfolglosigkeit führen. Das hat Jürgen Rüttgers mit seinem Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen vorexerziert. Aber auf Bundesebene wird dies nicht so ohne weiteres gelingen. Geht es nach der heutigen Papierform, wird Angela Merkel die erste Bundeskanzlerin Deutschlands sein. Aber noch hat das Duo Schröder-Müntefering nicht losgelegt und seine Wahlkampfstärke ist legendär. Die zentralen Schlachten zeichnen sich schon ab: Steuererhöhungen, Kündigungsschutz, Haushaltssanierung, Spitzensteuersätze - in keinem dieser Felder kann die Union mit voller Kampfkraft auftreten. Vier Klientelparteien stehen einer Volkspartei gegenüber. Am Ende könnten viele Jäger des Hasen Tod sein.