Menschen verfolgen unterschiedliche Ziele, Ameisen hingegen ein gemeinsames.
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Marne/Holstein. Man hat berechnet, dass jeder Österreicher Jahr für Jahr nicht weniger als 60 Stunden dadurch verliert, dass er in Staus festsitzt. Ziemlich genau die Hälfte der österreichischen Autofahrer hat sich damit abgefunden und neigt dazu, immer direkt auf ihr Ziel zuzusteuern und der Versuchung zu widerstehen, beim geringsten Anzeichen einer Stockung auf eine Nebenstraße auszuweichen. Die andere Hälfte hingegen neigt dazu, die Autobahn fluchtartig zu verlassen und auf eine Landstraße zu wechseln, sobald übers Radio oder Navigationsgerät ein Stau gemeldet wird.
Für welche Strategie soll man sich entscheiden? Die Stauforscher haben auf diese Frage eine eindeutige Antwort: In aller Regel macht man ein schlechtes Geschäft, wenn man versucht, einen Stau zu umfahren.
In einer Hinsicht, erklärt die Toulouser Biologin Audrey Dussutour, sind die Ameisen zu beneiden - auf ihren Straßen gibt es nie Staus. Der Grund: Keiner Ameise würde es einfallen, sich vorzudrängeln oder sich auf Überholmanöver einzulassen. "Der Hauptunterschied zwischen dem Verkehr von Ameisen und Menschen ist, dass wir ganz unterschiedliche Ziele haben: Einige fahren zum Einkaufen, andere zur Arbeit. Die Ameisen hingegen haben alle dasselbe Interesse: Sie beschaffen Nahrung für die Kolonie. Sie kooperieren, weil sie ein gemeinsames Ziel verfolgen."
Kürzlich haben der britische Biologe Tomer Czaczkes und seine Kollegen Christoph Grüter und Francis Ratnieks von der Universität von Sussex experimentell erforscht, was diese Insekten unternehmen, um Verkehrsstaus abzuwenden. Sie berichten darüber im Fachjournal "Interface".
Die Biologen ließen Schwarze Wegameisen eine 20 Zentimeter lange Brücke überqueren, die von ihrem Nest zu einer Schale mit Zuckerwasser führte. Um unterschiedliche Verkehrsdichten zu simulieren, wurden die Tiere teils auf eine 20 Millimeter breite, teils auf eine nur 5 Millimeter breite Brücke geschickt. Außerdem ließen die Forscher zum einen zeitweise höchstens neun Ameisen auf die Brücke. Zum anderen legten sie den Insekten schwarze Glaskügelchen in den Weg, die mit dem Geruch von Mitgliedern der Kolonie präpariert waren.
Die britischen Wissenschafter haben herausgefunden, wie die Schwarzen Wegameisen es schaffen zu verhindern, dass es auf dem Pfad zu Verkehrsstockungen kommt. Herrscht auf der Strecke zwischen Nest und Futterquelle ein solches Gedränge, dass Ameisen sich mit dem Kopf berühren und sich gegenseitig behindern, sondern sie die Pheromone, Botenstoffe, die zur Markierung des Wegs dienen, gar nicht mehr oder in geringerer Menge ab. Das veranlasst immer mehr Ameisen dazu, diese Route zu meiden und
es mit einer anderen zu versuchen.
Dabei werden wieder mehr Pheromone abgegeben, um weitere Sammlerinnen anzulocken, die selbst wiederum Duftstoffe abgeben. Am Ende kann der Verkehr wieder gleichmäßig fließen.
Mit ihrer raffinierten Methode der Verkehrsregulierung durch negative Rückkoppelung verhindern die Schwarzen Wegameisen von vornherein, dass es zu Verstopfungen kommt und dass sie bei der Nahrungsbeschaffung Zeit und Energie verschwenden.
Duftstoffe und Polizisten
Tomer Czaczkes und seine Mitarbeiter weisen aber darauf hin, dass längst nicht alle Ameisenarten so vorgehen wie die Schwarzen Wegameisen. So ist bekannt, dass manche Arten diejenigen Routen mit bestimmten Duftstoffen markieren, die sich als weniger günstig oder als Holzwege erwiesen haben. Bei manchen Arten gibt es sogar Verkehrspolizisten, die Sammlerinnen durch rüdes Wegschubsen daran hindern, Straßen zu benutzen, die gerade überlastet sind.
Czaczkes vermutet, dass der entdeckte Selbstregulationsmechanismus "mehreren Funktionen dienen dürfte. Darunter die Reduktion eines unnötig hohen Verbrauchs von Energie verschlingenden Pheromonen; die Anpassung und Begrenzung der Zahl der für eine Futterquelle rekrutierten Arbeiterinnen im Verhältnis zum Verkehrsaufkommen, das der dafür benutzte Transportweg bewältigen kann. Und zu verhindern, dass stark benutzte Routen dermaßen mit Pheromonen markiert werden, dass alternative Pfade überhaupt nicht entstehen können."