Für Betrachter von außen bergen die Strukturen der Europäischen Union einige Überraschungen.
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Jim konnte es nicht fassen. "Ist es wirklich so kompliziert in der EU?", fragte er wiederholte Male. "Das kann doch nicht wahr sein!", rief er dazwischen immer wieder aus. Was sein maßloses Erstaunen auslöste, war eine in der Emigration durchaus übliche Konversation zwischen zwei EU-Bürgerinnen fern ihres Landes.
Jim war 50 Jahre alt, von Beruf Ingenieur und besaß einen Pass der USA, wo er auch aufgewachsen war. Seine Eltern hatten osteuropäische Wurzeln, die Mutter kam aus Polen, der Vater aus Litauen. Jim selbst hat die vergangenen zwanzig Jahre in Brasilien verbracht, und mittlerweile fiel ihm das eine oder andere Wort eher auf Portugiesisch denn auf Englisch ein. In Brüssel hielt er sich dienstlich für ein paar Tage auf, und irgendwie hat es ihn in die Bar gleich hinter der nach dem Goldenen Vlies benannten Einkaufsstraße in der Nähe des Justizpalasts verschlagen. Das Lokal gehörte einem Albaner, der seit fast einem Vierteljahrhundert in Belgien lebte, und hinter dem Tresen bediente eine junge quirlige Kellnerin, die aus Rumänien stammte. Ich unterhielt mich mit ihr gerade über Steuern, Krankenversicherungen, legalen Aufenthalt und illegale Arbeit. Jim hörte interessiert zu, bis er so verwirrt war, dass er sich einmischen musste. "Wir sind hier doch in der Europäischen Union, oder?", fragte er. "Und Belgien ist da ebenso drinnen wie Österreich und Rumänien, stimmt’s?" Wir bejahten beides. Warum dann trotzdem die Steuersysteme so unterschiedlich sind oder die österreichische Krankenversicherung mehr in der Theorie denn in der Praxis von belgischen Ärzten anerkannt wird, konnten wir aber nicht mehr so einfach beantworten. Auch wenn wir es mit den leicht paradox anmutenden Erklärungen von der Gemeinschaft versuchten, deren Mitglieder eben doch an ihrer Eigenständigkeit festhalten wollen. Das konnte Jim nicht nachvollziehen, und völlig aus der Fassung brachte ihn schließlich die Information zu Übergangsfristen auf dem Arbeitsmarkt. Unsere rumänische Kellnerin beispielsweise könnte keineswegs überall in der EU ohne Einschränkungen einen Job aufnehmen, auch wenn sie sich da überall niederlassen dürfte. Die Übergangsfristen, mit denen manche Länder ihre Märkte schützen, laufen in Österreich und in Deutschland erst sieben Jahre nach Rumäniens EU-Beitritt 2007 aus.
"Das ist ja so, als ob ich in den USA nicht von einem Staat in den anderen ziehen dürfte und mir dort einen Job suchen", befand Jim mit einem Kopfschütteln. Für ihn war diese Vorstellung bizarr: Zwar sei es nicht mehr so einfach, den US-Pass zu erhalten, doch wer diesen einmal hat, kann in jedem Staat arbeiten.
Als Einwand mag nun gelten, dass etliche EU-Bürger sich gar keine Vereinigten Staaten von Europa mit einer Zentralregierung in Brüssel wünschen. Auch könnte angeführt werden, dass noch immer die Sozialsysteme in weiten Teilen der Gemeinschaft weit besser sind als in den USA. Doch zumindest in einem Punkt dürften Amerikaner weiter sein als Europäer. Woher ihre Eltern auch kommen, sehen sie sich meist als US-Bürger. Bis sich EU-Bürger in ähnlichem Ausmaß als solche bezeichnen, dürfte es noch dauern.