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Amerikas Gefängnisproblem

Von Alexander U. Mathé

Politik

Präsident Barack Obama fordert eine Strafreform - zu viele US-Bürger werden zu hart bestraft.


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Washington. Nirgends auf der Welt werden so viele Menschen ins Gefängnis gesteckt wie im Land der Freien. Mehr als 2,2 Millionen Häftlinge gibt es in den USA - weit mehr als im zweitgereihten China mit mehr als 1,6 Millionen; an dritter Stelle steht abgeschlagen Russland mit knapp 670.000. Gemessen an der Bevölkerung ziehen die USA dann ohnedies davon. Auf 100.000 Einwohner kommen 689 Gefangene - das schaffen sonst nur karibische Kleinststaaten, wo jeder einzelne Häftling die Quote in Steilflug versetzt. Da möchte man fast meinen, die Zeiten des Wilden Westens und Al Capones seien wieder ausgebrochen. Doch weit gefehlt: Die Zahl der Verbrechen ist in den letzten Jahren stetig gefallen. Das FBI zählte 1991 noch 14,872.900 Fälle, 2010 waren es nur mehr 10,363.873 und 2013 schließlich 9,795.658. Doch wie ist es möglich, dass trotz sinkender Verbrechensrate die Zahl der Inhaftierten steigt?

Einer, der ursächlich dafür mitverantwortlich ist, ist Len Bias. Der Basketballstar starb 1986 an einer Überdosis Kokain. Unter dem Eindruck dieser Tragödie und dem Krieg, den die USA den Drogen erklärt hatten, beschloss der Kongress 1988 ein neues Gesetz. Dieses sah harte Mindeststrafen für Drogendelikte vor. So zieht beispielsweise der Besitz von fünf Gramm Crackkokain (ein bisschen mehr als ein halbes Packerl Vanillezucker) bei einer Verurteilung unweigerlich mindestens fünf Jahre Gefängnis nach sich. Das Resultat der restriktiven Rauschgiftpolitik: Mehr als die Hälfte der Häftlinge in US-Bundesgefängnissen sitzt wegen Drogenvergehen ein.

Dabei können die Gesetze in den einzelnen Bundesstaaten die Situation noch weiter verschärfen. Das erlebte Patricia Spottedcrow in Oklahoma. Im Jahr 2010 wurde die bis dahin unbescholtene Afroamerikanerin zu einer Haftstrafe von zwölf Jahren verurteilt, weil sie Marihuana im Wert von 31 Dollar verkauft hatte. Nach einer Welle der Empörung wurde die Strafe immerhin in Berufung reduziert und Spottedcrow auf Bewährung freigelassen.

Rassistische Justiz?

Ein anderer Grund sind Gesetze, die in den USA bei einer dritten Straftat drakonische Strafen vorsehen und bei Vorgeschichte mit Gewaltanwendung lebenslange Haft vorsehen. Auch wenn es sich beim dritten Vergehen um verhältnismäßig leichte Straftaten wie einem Ladendiebstahl oder das Rauchen eines Joints handelt.

Einer, der unter die Räder dieser Politik kam, ist Fate Vincent Winslow. Bereits wegen Einbruchs und Kokainbesitzes verurteilt, bekam der Afroamerikaner lebenslänglich, weil er 2008 um 20 Dollar Marihuana verkauft hatte. Und noch etwas fiel an dem Fall auf: Winslow hatte einen weißen Komplizen, der jedoch nicht verhaftet wurde und im Prozess lediglich als "verschollen" angegeben wurde.

Die Statistik zeigt, dass besonders Afroamerikaner die Härte der Justiz zu spüren bekommen. Jeder zwölfte Schwarze zwischen 25 und 54 Jahren sitzt in den USA hinter Gittern. Zwei Drittel aller US-Häftlinge sind Schwarze und Latinos. Im Bundesstaat Mississippi liegt bei lebenslangen Haftstrafen für nicht gewalttätige Verbrechen der Anteil an Afroamerikanern bei 78,5 Prozent, in Illinois, dem politischen Heimatstaat von Präsident Barack Obama immerhin bei 70 Prozent.

"Hier hätte ich auch landen können", sagte Obama, der als erster US-Präsident überhaupt am Donnerstag ein staatliches Gefängnis besucht hat. "Darüber sollten wir alle nachdenken", erklärte er nach dem Besuch der Federal Correctional Institution El Reno in der Steppe Oklahomas. Dass er in jungen Jahren sowohl Marihuana, als auch Kokain konsumiert hat, daraus hat der Präsident nie einen Hehl gemacht.

Seit Jahren bemüht sich Obama, das kaputte Strafsystem der USA zu reformieren. "In viel zu vielen Fällen ist die Strafe der Straftat nicht mehr angemessen." Doch den Richtern bleibt ob der harten Vorlagen kaum Spielraum bei ihren Entscheidungen. Das soll sich - geht es nach Obama - ändern. Er rief den Kongress dazu auf, unter anderem die Mindeststrafen für nicht gewalttätige Drogenkriminelle abzuschaffen. Richter sollten selber entscheiden können, welche Strafen angemessen seien. Symbolhaft begnadigte der Präsident am Montag 46 Drogenhäftlinge, denen jahrzehntelange Strafen aufgebrummt wurden. Bis Ende des Jahres soll der Kongress eine Strafrechtsreform ausarbeiten, fordert Obama. Die Chance, dass es wirklich dazu kommt, ist so groß wie nie. Denn es gibt in beiden Parteien Befürworter einer Neuausrichtung. Das liegt nicht zuletzt daran, dass namhafte Experten mittlerweile davon überzeugt sind, die amerikanische Abschreckungspolitik sei letztlich nicht zielführend.

Eine Studie der Universität New York kommt zu dem Schluss, dass die inflationäre Anwendung von Haftstrafen relativ wenig mit der abnehmenden Kriminalität zu tun hat. Im Gegenteil: Der Hang zur Inhaftierung könnte in den USA schon bald dazu führen, dass die Kriminalitätsrate wieder ansteigt. Besonders Menschen, die wegen Kleindelikten einsitzen, sind anfällig dafür, im Gefängnis einen völlig neuen Kriminalitätslevel zu erreichen. Nicht nur sind sie dort in einem System mit richtigen Schwerverbrechern gefangen, einem System, das eine Brutstätte für gewalttätiges und asoziales Verhalten ist. Einmal als Häfenbruder stigmatisiert, ist es auch schwierig sich in die Gesellschaft zu integrieren oder Arbeit zu finden; von den psychischen Folgen gar nicht erst zu sprechen.

Verbrechen zahlt sich aus

Der Träger des Wirtschaftsnobelpreises, Joseph Stiglitz, schrieb in einem Vorwort zur Studie der Universität: "Diese ungeheure Inhaftierungsrate ist nicht nur unmenschlich, sondern auch wirtschaftlicher Wahnsinn." Abgesehen von der meist auf Lebenszeit reduzierten wirtschaftlichen Produktivität der Häftlinge, geben die Amerikaner jedes Jahr 260 Milliarden Dollar für die Strafjustiz aus, berichtet das Forschungsinstitut Pew Center. Das sei mehr als ein Viertel des Staatsdefizits. Allein die Gefängniskostern belaufen sich offiziellen Angaben zufolge auf 80 Milliarden Dollar.

Und doch zahlt sich Verbrechen aus. Zumindest für private Betreiber von Gefängnissen. Denn die Branche boomt. Die Privaten erhalten für jeden Insassen Geld vom Staat. Das finanzielle Risiko ist relativ gering: Privatgefängnisse haben Abkommen mit den staatlichen Stellen, die eine Auslastungsquote festlegen. Liegt diese unter dem vereinbarten Wert, zahlt der Steuerzahler für die leeren Betten. In manchen Fällen belaufen sich diese Quoten auf 90 Prozent. Doch hier endet der Profit nicht.

Die Gefängnisindustrie lässt Häftlinge für Großunternehmen wie McDonalds, Starbucks, Victoria’s Secret oder Boeing arbeiten. Als Lohn erhalten sie kolportierte ein bis vier Dollar am Tag. Wenig verwunderlich, dass die Nachfrage an der billigen Arbeitskraft groß ist. Mehr noch: Es hat den Anschein, als ob private Gefängnisse hier noch nachhelfen. Das Centre of Research on Globalization in Kalifornien berichtet von einer Gefängnisstudie in New Mexico. Häftlinge erhalten bei guter Führung einen Straferlass, während sie bei schlechter Führung einen Monat länger sitzen müssen. Der Studie zufolge haben Häftlinge in Privatgefängnissen acht Mal öfter den Gute-Führung-Status verloren als in staatlichen.

Befeuert wird die Situation noch dadurch, dass die privaten Gefängnisbetreiber Unternehmen sind, die an der Börse gehandelt werden und an denen bis vor kurzem sogar Stiglitz’ renommierte Columbia-Universität in New York beteiligt war. Es liegt wohl durchaus im Interesse der Aktionäre, dass die Privatgefängnisse möglichst viel Geld mit den Insassen machen. Dadurch entsteht ein regelrechtes Lobbying für längere Haftstrafen, um die Arbeitskraft und den Profit zu steigern. Und so trägt letztlich die Gefängnisindustrie an sich dazu bei, dass die Haftanstalten stets gut gefüllt sind.