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Das Taktieren hat nach der Wahl in Deutschland längst begonnen.
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"Der Vorhang zu und alle Fragen offen." So lautete der Schlusssatz des legendären Feuilletonisten Marcel Reich-Ranicki beim Literarischen Quartett. Der Vorhang des deutschen Wahldramas ist gefallen, und alle Fragen des Spitzenkandidaten-Quartetts Olaf Scholz (SPD), Armin Laschet (CDU/CSU), Annalena Baerbock (Grüne) und Christian Lindner (FDP) sind offen. Nun geht es um die Bildung einer Regierungskoalition.
Laschet hat der CDU/CSU eine desaströse Wahlniederlage beschert (das zweitschlechteste Ergebnis seit Gründung der BRD), stellte aber noch in der Wahlnacht den Anspruch auf die Regierungsbildung. Laschet hat also das Jamaika-Ticket gelöst (die Flagge des Karibikstaats trägt die Parteifarben dieser Koalitionsvariante Schwarz-Grün-Gelb).
Scholz hat die Sozialdemokraten aus dem Formtief der vergangenen Jahre geholt und wird nun versuchen, eine Ampelkoalition (erraten: Rot-Gelb-Grün - SPD-FDP-Grüne) zu bilden.
Seine Chancen stehen besser als jene von Laschet: Denn die Zugewinne der SPD wird Scholz als Wählerauftrag interpretieren und versuchen, mit dem Wahlsieger-Argument seine möglichen Koalitionspartner FDP und Grüne auf seine Seite zu ziehen. Scholz wird auch darauf verweisen, dass die CDU/CSU als Wahlverlierer dasteht. Dazu kommt, dass Scholz nach 16 Jahren von der CDU und Angela Merkel geführten Regierungskabinetten einen Wechsel an der Spitze für besser verkaufbar hält als ein "Weiter so" unter Laschet. Weiteres Argument: Eine Ampelkoalition (SPD-FDP-Grüne) wäre eine Koalition der Wahlsieger.
Bloß: Die Wählerinnen und Wähler haben Parteien gewählt und keine Koalitionsvarianten.
Das Taktieren hat längst begonnen: Die Grünen und die FDP lassen sich die Koalitionsoptionen völlig offen - das treibt den Preis für eine Regierungsmitarbeit in die Höhe. Die CDU/CSU hat das verstanden und bereits signalisiert, dass man den möglichen Partnern sehr entgegenkommen würde. FDP-Chef Lindner hat im ZDF eine Jamaika-Koalition (CDU/CSU-Grüne-FDP) als seine Präferenz bezeichnet. Die Grünen wiederum haben stärkere programmatische Überschneidungen mit der SPD. Es wird jedenfalls kompliziert.
Klar ist: Was in der Macht in der Mitte Europas passiert, hat Auswirkungen auf die gesamte EU. Und klar ist auch: Die bisherige Bundeskanzlerin Merkel hinterlässt eine große Lücke. Kein Staats- oder Regierungschef eines ähnlich bedeutsamen Staates wie Deutschland ist so lange durchgehend im Amt wie sie. Da geht also eine Ära zu Ende.
Aber eben noch nicht gleich: Denn die Koalitionsverhandlungen könnten sich längere Zeit hinziehen und Noch-Kanzlerin Merkel somit länger im Amt sein als ihr lieb ist.