Die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP sind gestartet. Als Vorbild gilt Rheinland-Pfalz.
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Knapp einen Monat nach der Bundestagswahl, der mehrere Sondierungen folgten, ist es so weit: In Deutschland wird über eine neue Koalitionsregierung verhandelt. Am Donnerstagnachmittag trafen Vertreter des Wahlsiegers SPD, der Grünen und der FDP in Berlin zusammen. Bis Ende November soll der Vertrag stehen. "Das ist ehrgeizig und ambitioniert", kündigte der Generalsekretär der Liberalen, Volker Wissing, an.
Dem 51-Jährigen kommt bei den Verhandlungen eine Schlüsselrolle zu. Denn die sogenannte Ampel-Koalition wäre im Bund eine Premiere. FDP und Grüne fremdelten über viele Jahre miteinander, und zwar sowohl inhaltlich als auch habituell, sie kreideten einander Klientelismus für Besserverdiener beziehungsweise besserwisserische Verbotspolitik an. In Wissings Heimat, Rheinland-Pfalz, regieren Rot, Gelb und Grün hingegen seit 2016 miteinander. Dieses Bündnis hat auch auf Länderebene Seltenheitswert, wurde zuvor nur in den 1990ern in Bremen eingegangen. Dort zerbrach die Koalition vorzeitig. In Rheinland-Pfalz haben SPD, Grüne und FDP nicht nur durchgedient, sondern nach der Landtagswahl im März ihre Koalition fortgesetzt.
Platz zur Profilierung
Die Regierung im Südwesten agiert weitgehend geräuschlos. Denn die drei Parteien gönnen einander Projekte, bei denen sie sich profilieren können: Die SPD interpretiert ihre klassischen Themen Arbeit und Bildung neu. Sie will Rheinland-Pfalz zum weltweit führenden Standort in der Biotechnologie etablieren. In Mainz, der Hauptstadt des Bundeslandes, hat Biontech seinen Sitz, das durch den Covid-Impfstoff bekannt geworden ist. Auch Schulen für Berufe in der digitalen Welt sollen laut SPD entwickelt werden. Die Grünen setzen ebenfalls auf ihr Kernfeld. Im Koalitionsvertrag ist festgeschrieben, dass in Rheinland-Pfalz zwischen den Jahren 2035 und 2040 Klimaneutralität herrscht, also nur so viel Treibhausgas ausgestoßen wird, wie von der Natur aufgenommen werden kann - früher als in allen anderen Bundesländern. Die Freien Demokraten heften sich die Weiterentwicklung der Innenstädte, des dortigen Handels und des Tourismus auf die Fahnen.
Doch nicht nur "Leuchttrumprojekte" wurden definiert, auch bei der Verteilung der Ressorts geht Rheinland-Pfalz eigene Wege, um Konflikte zu vermeiden. Die Landwirtschaftsagenden wurden aufgesplittet, den Öko-Sektor verantwortet das grüne Umweltministerium, den konventionellen Bereich betreut die FDP - wie auch den Weinbau. Und die Freien Demokraten, mit 5,5 Prozent bei der Wahl deutlich kleinster Koalitionspartner, behielten Wirtschafts- und Justizministerium - wiewohl mit weniger Kompetenzen.
Diese Konstellation hängt auch mit Ministerpräsidentin Malu Dreyer zusammen. Die Sozialdemokratin steht bereits acht Jahren an der Spitze des Bundeslandes und verfügt über die Autorität, auch ungewöhnliche Wege zu beschreiten. Bei der Landtagswahl im März erhielt ihre SPD knapp 36 Prozent der Stimmen.
Von dieser Popularität ist die Bundespartei weit entfernt, sie gewann die Bundestagswahl mit nur einem Viertel der Wählerstimmen. Grüne und Liberale schnitten hingegen deutlich stärker ab als einige Monate zuvor im Südwesten. Noch dazu muss sich der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Olaf Scholz mit drei selbstbewussten Parteichefs arrangieren, den Grünen Annalena Baerbock und Robert Habeck, sowie dem Liberalen Christian Lindner.
Ausgeklammerte Reizthemen
Fraglich ist auch, inwieweit die Strategie der "Leuchtturmprojekte" der drei Parteien auf den Bund übertragbar ist. Selbst wenn die SPD bei Beschäftigung und Bildung ihre Spuren hinterlässt, die Grünen beim Klimaschutz und die FDP bei Wirtschaft und Handel: Es gebe "genügend Themen, die sich eben nicht so arbeitsteilig erledigen lassen", warnt der Politologe Sascha Huber von der Universität Mainz im ZDF. Auf Bundesebene müssten steuerpolitische, sozialpolitische und arbeitsmarktpolitische Fragen geklärt werden, dämpfte selbst der Ampel-erfahrene FDP-Politiker Wissing die Erwartungen.
In 22 Arbeitsgruppen werden die Verhandler in den kommenden Wochen über die anstehenden Probleme diskutieren. An vorderste Stelle setzten die Parteien "Moderner Staat und Demokratie", wo unter anderem schneller umzusetzende Behördenpläne, Wahlrecht und Bürgerbeteiligung auf der Agenda stehen. Doch alleine die SPD hat insgesamt 100 Verhandler genannt, langwierige Diskussionen könnten drohen. Noch dazu wurden bei den Vorab-Sondierungen sensible Themen ausgeklammert, darunter die Pflegereform, die CO2-Besteuerung und die emotional aufgeladene Mobilitätswende mit der Frage nach dem Ausstiegsdatum beim Kauf von Pkw mit Verbrennungsmotoren.
Über allem schwebt eine Frage: Wie werden die Vorhaben finanziert? Die FDP setzte durch, dass Einkommen-, Unternehmen- und Mehrwertsteuer nicht erhöht werden. Auch die Schuldenbremse des Bundes bleibt. Zugleich soll der Mindestlohn von 9,61 auf 12 Euro pro Stunde erhöht werden, Gelder in sozialen Wohnbau, Pensionssicherung, Klimaschutz und die Erneuerung der Infrastruktur fließen. 50 Milliarden Euro pro Jahr würden gebraucht, sagte Grünen-Chefin Annalena Baerbock. Harte Verhandlungen in engem Zeitrahmen stehen bevor.