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An der Frontlinie des Krieges im Osten der Ukraine

Von Thomas Seifert aus Awdiiwka (Fotos und Text)

Politik
Manche Soldaten sind seit fast fünf Jahren im Kriegseinsatz.

Ein Kommandant eines ukrainischen Bataillons, der eine persönliche Vendetta gegen seinen Gegenspieler führt.


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Oberstleutnant Oleg A. bei einer zerstörten Kirche in einem Wäldchen unweit der sogenannten Kontaktlinie.

Awdiiwka. Jewhen Marchuk sitzt im leeren ersten Stock eines bekannten Restaurants in Kiew. An der Wand alte Stadtansichten von Kiew, im Raum steht ein wunderschöner alter Flügel aus dem Jahr 1890 aus der Fabrikation der Pianofortefabrik C. M. Schröder (St. Petersburg). Marchuk trägt einen makellosen grauen Nadelstreifanzug, blaugraue Krawatte. Der Kellner wartet erst gar nicht auf eine Bestellung, sondern bringt gleich, was Marchuk hier immer isst und trinkt. Marchuk ist so etwas wie eine wandelnde Zeitgeschichte der Ukraine. Während der Präsidentschaft von Leonid Kutschma hat er als Premierminister gedient und bilaterale Verträge mit Russland verhandelt. Marchuk war davor Vizepremier, danach Verteidigungsminister.

Marchuk, der bei den Verhandlungen zum Minsker Abkommen dabei war und jetzt auch beim Astana-Prozess im Verhandlungsteam ist, nimmt die Annexion der Krim durch Russland und den Krieg in der Ostukraine sehr persönlich: Das Budapester Memorandum, in dem die Ukraine im Gegenzug zu Sicherheitsgarantien auf die Nuklearwaffen-Erbmasse der Sowjetunion verzichtet hat, hat Marchuk ebenfalls mit verhandelt und kennt den Vertragstext daher sehr genau. "Lesen Sie nach", sagt er, "in Artikel zwei heißt es, dass die Unterzeichner - darunter auch Russland - bekräftigen, dass keines der Unterzeichnerländer jemals seine Waffen gegen die Ukraine richten wird. Ich nehme diese Annexion daher sehr, sehr persönlich." Dann spricht er über den Krieg im Donbass. Er nimmt ein Blatt Papier zur Hand und zeichnet die Frontlinien auf. "Hier", sagt er, "steht die ukrainische Armee und hier" - Marchuk zeichnet eine weitere Linie mit seinem schwarzen Kugelschreiber - "stehen die Separatisten. An manchen Stellen sind es nur wenige Meter von unserer Seite zu den feindlichen Stellungen."

Willkommen im Krieg

Hier, in der sogenannten "Promka" oder "Prom-Zone", ist so ein Ort. Die Prom-Zone, das war ein Gewerbegebiet der Stadt Adwiiwka. Ein Wellblechhangar, von Maschinengewehrfeuer durchsiebt, geborstene Betonpfeiler, eingestürzte Gebäude. Der Boden ist von unzähligen Granateneinschlägen aufgerissen, die wenigen Bäume, die überlebt haben, sind von Granatsplittern arg zerzaust.

"Rotlichtstraße" nennen die Soldaten den Verbindungsgang in einem Bunkersystem in der umkämpften "Prom-Zone".

Die Soldaten nennen dieses Gebiet "Skelett". Denn von dem Gebäude, das einst die örtliche Straßenmeisterei beherbergt hat und von den Gewerbebauten ist nichts übrig als das blanke Skelett.

Hinter der Gruppe der zerstörten Gebäude beginnt ein Graben- und Bunkersystem wie im ersten Weltkrieg. Mit Erdreich befüllte ausrangierte Munitionskisten sind aufgeschlichtet, alte Autoreifen und Sandsäcke als Schutz gegen Splitter aufeinandergetürmt.

Willkommen in Europas fast vergessenem Krieg, der sich erst diese Woche nach der Krise im Asowschen Meer wieder in Erinnerung gerufen hat. Dieser Konflikt hat in den vergangenen vier Jahren mehr als 10.000 Menschenleben gefordert, mindestens ein Drittel davon Zivilisten. Und dieser Krieg ist der blutigste Konflikt in Europa seit den Balkankriegen in den 1990er Jahren. Es begann alles am 14. April 2014 in Slowjansk, als dort prorussische Separatisten die Macht übernahmen. Pro-russische Separatisten initiieren am 11. Mai 2014 in Donezk und Lugansk Referenden für die Abspaltung von der Ukraine, der Konflikt eskalierte. Auch der Raum Donezk war bald stark umkämpft. Nach heftigen Kämpfen gibt es heute einen brüchigen Frieden.

Nach dem Minsker Abkommen von 2015 ist der Einsatz von Luftangriffen, Panzern und schweren Waffen untersagt. Und genau das ist der Grund, warum hier gekämpft wird, wie im Ersten Weltkrieg: Die größte Gefahr für die Soldaten sind - solange dieses Abkommen halbwegs respektiert wird - Granatwerferangriffe und Scharfschützen. Seit 1. Jänner 2018 starben nach Angaben der Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit Sitz in Wien 43 Zivilisten, 177 wurden zum Teil schwer verletzt. Die ukrainische Armee spricht von 92 toten Soldaten während desselben Zeitraums.

Letzte Barrikade: Rotlichtstraße

Grabensysteme wie im Ersten Weltkrieg: So stehen die Soldaten der verfeindeten Armeen einander in der Ostukraine gegenüber.

Es geht durch ehemalige Fabrikshallen, durch mit Holzverschalungen verstärkte Gräben weiter bis zur sogenannten "Rotlichtstraße". Die Soldaten haben einen Tunnel mit einer rot leuchtenden LED-Leiste verziert, wenn man diesen Tunnel hinter sich lässt, ist man an vorderster Front. Bis jetzt war die Stimmung bei den Soldaten gelöst, trotz ständiger Verstöße gegen den Waffenstillstand sind die Soldaten hier viel schlimmeres gewöhnt. Doch hier, an vorderster Front, ist Schluss mit lustig. Die Soldaten beobachten gespannt mit Winkelfernrohren die andere Seite und sie wissen, dass es die Soldaten "drüben" auf dem Territorium der sogenannten "Volksrepublik Donetsk" genauso machen.

Wird hier oft geschossen? "Jeden Tag", sagen sie. Sie würden aber nur zurückschießen, beteuert einer der Soldaten, ihr Kommandeur Oberstleutnant Oleg A. - jeder nennt ihn hier mit seinem Nom de Guerre - "Automat", bekräftigt, dass die Soldaten strikten Befehl hätten, das Feuer nur zu erwidern. Oleg A., der 1999 die Militärakademie in Odessa am Schwarzen Meer absolvierte, ist seit Jänner 2015 als Panzergrenadier im Kriegseinsatz, seit Mai 2018 ist er für diesen 5,5 Kilometer langen Frontabschnitt verantwortlich, dieser Einsatz ist bereits seine vierte Rotation.

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Gab es hier in letzter Zeit Verluste? "Gottseidank hatten wir schon seit langer Zeit keine Verluste mehr. Aber es gab erst heute einen Verletzten. Unsere Seite wurde beschossen und in nächster Nähe eines unserer Soldaten explodierte eine Granate. Sein Trommelfell ist geplatzt und wir mussten ihn ins Lazarett bringen. Ansonsten blieb er unverletzt, der Kerl hatte unglaubliches Glück."

Ein Soldat in einem zerstörten Gebäude in der umkämpften "Prom-Zone" in Awdiiwka.

Oleg A. führt den Patrouillentrupp weiter in seinen modern ausgebauten Gefechtsstand. Beobachtungskameras sind auf die feindlichen Positionen gerichtet. Das Kameraauge blickt auf eine Brücke, die Separatisten haben sich hinter den Betonplatten, mit der die Böschung bewehrt ist, einen Unterstand für ihr MG-Nest gegraben. Von dort bedrohen sie nun einen wichtigen Bereich von Olegs Abschnitt. Aus dem Nebenraum dringt das Stimmengewirr der Bataillons-Funker.

Auf einem großen Bildschirm zeigt Oleg einen von einem russischen Sender stammenden Frontbericht von der anderen Seite. Man hört, wie eine Granate sehr nahe von der Kameraposition entfernt einschlägt, hört das Fluchen des Kriegskorrespondenten. Die Reaktion der ukrainischen Soldaten im Gefechtsstand von Oberstleutnant Oleg A.? Lautes Gelächter. Dann sind weitere dramatische Gefechtsszenen zu sehen. Oleg A. zeigt jedem Besucher auch jene Szene, bei der der Kommandeur der gegnerischen Truppen tödlich verwundet und auf einer Bahre davongetragen wird. Oleg A. hebt seine Hand und streckt dem Fernsehbild seinen Zeigefinger entgegen: "Da seht ihr’s!"

Das ist Olegs persönlicher Triumph - er, Oleg A., Kommandeur des 2. Bataillons der 92. Brigade der ukrainischen Armee ist noch am Leben, sein Gegenspieler nicht mehr. Diesen Krieg, den nimmt Oleg A. persönlich.

Dann führt Oleg A. den Trupp weiter durch ein Wäldchen zur Nikolaikirche. Die Kirche ist durch mehrere direkte Treffer stark beschädigt.

Sampo Collander und Evgeny Boronowsky von der OSZE Boronowsky überwachen den brüchigen Waffenstillstand.

Hier hat die Truppe im Freien ein Fitnessstudio eingerichtet. Einer der Soldaten, er ist der Zugsführer eines Aufklärungszugs, trainiert gerade an den Hanteln, die die Soldaten selbst gebastelt haben. Er erzählt von seiner Frau, eine Pädagogin, die er schon lange nicht mehr gesehen hat - "zu lange!" - und von seinem Sohn, von dem er stolz berichtet, dass er eben sein Philosophiestudium abgeschlossen hat und der vier Sprachen spricht: "Anglijskij, Polski, und nun hat er auch mit Kitajskij - Chinesisch - begonnen. Jetzt habe ich zwei Akademiker in meinem Haus: Meine Frau und meinen Sohn. Und ich bin hier im Krieg. Wie soll ich mich jetzt in meiner Familie weiter behaupten", sagt er und lacht.

Seine Familie, sein früheres Leben ist weit, weit weg.

Brüchiger Waffenstillstand

Der Finne Sampo Collander und Evgeny Baranovksy - er stammt aus Weißrussland - arbeiten als Waffenstillstandsbeobachter für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Sie dürfen mit ihren gepanzerten, weißen Toyota-Landcruisern nur mehr über asphaltierte Straßen fahren, seit ein aus den USA stammender OSZE-Beobachter starb, als sein Fahrzeug über eine Mine fuhr.

"Es gibt fast jeden Tag Verletzungen gegen den Waffenstillstand", sagen beide unisono. "Wir versuchen, dann eine neue Waffenruhe auszuhandeln", sagt Baranovksy. "Die lokale Bevölkerung fühlt sich sicherer, wenn wir da sind. Durch unsere Präsenz und unser Einwirken auf die Konfliktparteien tragen wir zu mehr Ruhe bei", davon ist er überzeugt. "Und wir sind die Augen und Ohren der internationalen Staatengemeinschaft", fügt Collander hinzu, "durch uns weiß man, was hier vor sich geht."

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat die schwierige Aufgabe, den überaus brüchigen Waffenstillstand zu überwachen. Die OSZE mit Sitz in Wien hat rund 700 unbewaffnete Beobachter aus 44 OSZE-Mitgliedsländern in die Ukraine geschickt, 10 davon kommen übrigens aus Österreich. In den vergangenen Monaten wurden rund 35.000 Waffenstillstandsverletzungen pro Monat beobachtet, jeden Tag stoßen die OSZE-Beobachter auf schwere Waffen in der Waffenstillstandszone, die dort eigentlich längst abgezogen sein müssten.

Totengedenken

Zurück in Kiew. Neben dem Verteidigungsministerium steht ein Denkmal für die gefallenen Ukranischen Soldaten. Ein Soldat in eleganter Ausgehuniform hält Wache. Jeden Tag wird am Morgen eine Glocke geläutet, danach werden die Namen der über die Jahre an genau diesem Tag gefallenen Soldaten aus einem überdimensionierten Ordner - links vom Ordner liegt täglich eine frische Rose - gelesen, das auf einem Podest liegt.

Die Steintafeln an den Wänden sind wie Seismografen des Krieges. In den Jahren von 1992-2012 finden sich gerade einmal sieben Namen auf der Tafel, den Rest der Steintafel und die Hälfte der Nächsten ist voll mit Namen jener Soldaten, die im Jahr 2014 ihr Leben verloren haben. Im Jahr 2017 wurden 205 Namen eingetragen, 92 Namen sind auf der Tafel des Jahres 2018 verzeichnet. Vor den Tafeln - ein frischer Strauß roter Nelken. Wie viele Namen werden woh noch bis 31. Dezember auf dieser Tafel landen? Plötzlich ist auch im weit von der Front entfernten Kiew der Krieg recht nah und präsent.