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An der Realität vorbei

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

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Man weiß nicht, ob diese Leidenschaft ein Fluch oder ein Segen ist, mit der sich die politische Klasse und eine politisierte Minderheit einem Thema wie dem 12-Stunden-Tag widmen. Womöglich handelt es sich um ein Beispiel für eine gesellschaftlich lebendige Streitkultur, die unerlässlich ist für eine wache Demokratie. Zu befürchten ist allerdings, dass all die Schwächen der heimischen politischen Kultur erbarmungslos zum Vorschein kommen.

Am Anfang steht die zunehmende Unfähigkeit zum belastbaren Kompromiss. 2017 war eine Lösung zwischen den Sozialpartnern bereits in greifbarer Nähe, scheiterte jedoch am aufziehenden Wahlkampf. Eine Erhöhung des Mindestlohns hätte mit einer Flexibilisierung der Arbeitszeit abgetauscht werden sollen. Der Mindestlohn wurde erhöht, die Flexibilisierung abgesagt.

So entsteht die Lust an der Revanche. Die Arbeitgeber fühlten sich hintergangen, mit dem Regierungswechsel hatte der ÖGB sein Vetorecht verloren, der Weg zur Arbeitszeitflexibilisierung war damit frei.

Jede Revanche zieht unweigerlich den Wunsch nach neuerlicher Vergeltung nach sich. Und so nimmt die Kettenreaktion ihren Lauf. Auf den Gesetzesbeschluss im Eilzugstempo und ohne Begutachtung folgen Pläne für Streiks und Volksbegehren, was mit einem vorgezogenen Inkrafttreten am 1. September statt 1. Jänner beantwortet wird.

In einem anderen Land müsste man sich nun, angesichts der hochgeschaukelten Emotionen, tatsächlich Sorgen um den sozialen Frieden im Land machen. In der Debatte im Nationalrat vergriffen sich Vertreter aller Fraktionen mit Ausnahme der Neos im Ton wie in der Wortwahl. Mehr als nur einmal und keineswegs nur in der Hitze des Gefechts. Rhetorische Eskalation auf offener Bühne ist in Österreich so inszeniert wie beabsichtigt. Wenn Kameras und Mikrofone abgeschaltet sind, ist die Aufregung dann nur noch halb so groß.

Was dabei verlässlich zu kurz kommt, ist ein nüchterner Blick auf die Realität der modernen Arbeitswelt, die sich längst den starren gesetzlichen Vorgaben entzogen hat. Nicht überall und für alle und jeden, aber eben doch für viele. Arbeitgeber und Vorgesetzte stehen deshalb mit einem Bein jenseits des Gesetzesrahmens. Weil es aber alle mit den Buchstaben des Gesetzes nicht so ernst nehmen, kümmerte das bisher niemanden.

Die Regierung hat das Ihre zur Eskalation beigetragen. Und natürlich ist die viel gepriesene Freiwilligkeit beim 12-Stunden-Tag eine theoretische Fiktion für alle Beschäftigten, für die es am Jobmarkt schnell und einfach Ersatz gibt.

Die Wirklichkeit bleibt so wenig perfekt wie zuvor.