Filmstart: "Mali und die Kunst des Teilens". | Selbst reichste Länder bewältigen das Problem nicht. | Wien. In drei Dörfern in der Region Mopti in Mali wurden Schulen errichtet, in denen Kinder und Erwachsene Lesen und Schreiben lernen. Das "Mali-Projekt" zur Alphabetisierung wurde von der österreichischen Psychotherapeutin Hilde Heindl ins Leben gerufen. Die Dokumentation zum Projekt, "Mali und die Kunst des Teilens", startet heute, Freitag, in heimischen Kinos.
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Die Zahl der Analphabeten weltweit variiert je nach Berechnungsmethode und Begriffsdefinition. Nach Angaben der Unesco lag sie 2008 bei rund 776 Millionen Menschen, davon zwei Drittel Frauen. 41 Prozent der Bewohner Südasiens und rund 40 Prozent der Bewohner Afrikas südlich der Sahara sind demnach Analphabeten.
Migranten betroffen
Doch selbst hierzulande muss man nicht lange suchen, um auf das Problem Analphabetismus zu stoßen. Die Unesco schätzt die Zahl jener Menschen in Österreich, die nicht oder nur mangelhaft lesen und schreiben können, auf mindestens 300.000 - manche Experten rechnen mit weitaus mehr. Laut Pisa-Test liegt die Zahl der betroffenen Kinder bei fünf Prozent. Am meisten betroffen sind Migranten und Menschen mit deutscher Muttersprache aus niedrigen sozialen Schichten. Zur Beschaffung von verlässlichem Datenmaterial nimmt Österreich derzeit an einer OECD-Studie teil - eine Art Pisa-Studie für Erwachsenenbildung. Eine verlässliche Zahl der Analphabeten soll 2013 vorliegen.
Doch wie kommt es zu Analphabetismus in einem der reichsten Länder der Welt? "In Österreich ist das Problem vielschichtig. Die allerwenigsten sind totale Analphabeten, also können überhaupt nicht lesen und schreiben", sagt Antje Doberer-Bey, Expertin vom österreichweiten Netzwerk Basisbildung, wo jährlich 1000 Erwachsene Lesen und Schreiben lernen.
Unterschiedliche Abstufungen seien von Lese- und Schreibschwächen Zeichen von Überforderung. Die Informationstechnologien hätten die Anforderungen in Arbeitsleben und Alltag verändert, globale Medien die Komplexität der Zusammenhänge scheinbar erhöht: "Die Menschen müssen immer mehr Dinge parallel verarbeiten und verstehen die Zusammenhänge oft nicht. Einen TV-Bericht über fossile Energie verbinden nicht alle mit dem Strom aus der Steckdose", sagt Doberer-Bey. Um die wachsende Informationsflut zunehmend schneller zu verarbeiten, reiche das, was ein Mensch aus der Schule mitgenommen habe, oftmals nicht - wer bildungsferner ist, hat es schwerer. Das gelte besonders für Erwachsene auf dem Land, die vor dem Computerzeitalter schulpflichtig waren.
Auch 14 bis 20 Prozent der in Österreich lebenden Jugendlichen hätten Schwierigkeiten, Sinn erfassend zu lesen. Früher sei das kaum aufgefallen, weil Jugendliche mit Lernschwächen manuelle Berufe ergriffen hätten. "Aber diese Stellen gibt es nicht mehr. Sondern man muss, egal was man macht, vergleichsweise komplizierte Texte, für die man einiges an Hintergrundwissen benötigt, erfassen können", betont Doberer-Bey. Das Arbeitsleben erfordere ein fast akademisches Verständnis von Sprache und Information.
Mündliche Sprache
Agnes Sykora, Leiterin des IBB-Instituts für Bildungsbegleitung in Wien, nennt eine gut ausgeprägte mündliche Sprache als Voraussetzung dafür, dass die Schriftsprache gut erlernt werden kann. "Dass man Migranten-Kinder, die kein Deutsch können und nicht im Kindergarten waren, einfach in die Schule steckt, ist fast ein Verbrechen. Sie lernen die Sprache nicht einfach von selbst und verstehen zunächst kein Wort", sagt Sykora.
"Das Gehirn lernt immer, aber nicht unbedingt das, was der Lehrer will. Es liegt an uns, darauf zu achten, dass Kinder den richtigen Input bekommen", sagt Manfred Spitzer, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III in Ulm. Bei der Geburt haben Kinder alle Lautverbindungen zur Verfügung. Wie sich die Laute verbinden, ist eine Frage der Übung: Je mehr ein Kind liest und schreibt, desto dichter vernetzen sich die Synapsen im Gehirn.