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In einer nur einwöchigen Kraftprobe mit Präsident Boris Jelzin hat die von Kommunisten und Nationalisten dominierte russische Duma kapituliert. Demoralisiert durch das gescheiterte
Amtsenthebungsverfahren und offensichtlich auch aus Angst vor der Auflösung des Parlaments bestätigten die Abgeordneten am Mittwoch Generalleutnant Sergej Stepaschin als neuen Ministerpräsidenten.
Jelzins Vertreter in der Duma, Alexander Kotenkow, sprach von einem Doppelsieg des Präsidenten, der nach einer Reihe von Niederlagen nötig gewesen sei. Stepaschin, dritter Regierungschef in Rußland
in 14 Monaten, war der Wunschkandidat Jelzins.
Sieben Monate vor den Parlamentswahlen hat Jelzin der linken Opposition im Parlament damit eine empfindliche Niederlage zugefügt. Die befürchtete innenpolitische Krise nach der Entlassung des
populären Regierungschefs Jewgeni Primakow blieb aus. "Jelzin sagte einmal, sein Hauptziel im Leben bestehe darin, mit dem Kommunismus in Rußland für immer fertig zu werden", schrieb die Zeitung
"Argumenty i Fakty". Die Aufgabe des loyalen Stepaschin bestehe darin, die Lage im Lande bis zu den Wahlen stabil zu halten, um nicht "Wasser auf die Kommunistenmühle zu gießen".
Jelzin, um dessen Gesundheitszustand es am Dienstag wieder Spekulationen gab, demonstrierte am Mittwoch Aktivität im Kreml, empfing zahlreiche Politiker und traf unmittelbar nach der Duma-Abstimmung
seinen Getreuen Stepaschin. Dieser hatte zuvor vor der Duma erklärt, er werde den Präsidenten niemals verraten.
"Der Präsident braucht einen Präsidenten-Regierungschef", schrieb die Zeitung "Sewodnja". "Und die Duma, die kein Impeachment zustandegebracht hat, braucht er auf den Knien oder am besten in
aufgelöster Form." Primakow, den die Medien in seiner nur achtmonatigen Amtszeit zeitweise sogar als "Vize-Präsidenten" bezeichnet hatten, habe dagegen zu sehr auf der Seite der Duma gestanden und
sei zu populär geworden.
Für die, wie es in Rußland heißt, "unversöhnliche Opposition" in der Duma war Stepaschin nicht die schlechteste Wahl. Mit markigen Worten · "Ich bin nicht General Pinochet, ich heiße Stepaschin",
einer klaren Kampfansage gegen Korruption und Kriminalität, dafür unbestimmten Sätzen zum Verlauf der weiteren Wirtschaftsreformen und populistisch klingenden Aussagen, daß die Bevölkerung unter den
Reformen nicht leiden dürfe, zog der bisherige Innenminister Nationalisten und Kommunisten auf seine Seite.
Vergessen war offenbar der Anklagepunkt drei des von den Kommunisten angestrebten Amtsenthebungsverfahrens gegen Jelzin vom Samstag: Krieg gegen Tschetschenien. Als damaliger Geheimdienstchef hatte
Stepaschin einen Teil der Verantwortung für den Krieg im Kaukasus getragen. Am Mittwoch stimmte fast die Hälfte der kommunistischen Fraktion dennoch für Stepaschin.
Unterstützt wurde die ungewöhnlich deutliche Bestätigung Stepaschins offensichtlich durch Gerüchte in den Parlamentskorridoren, Jelzin könnte den Abgeordneten im Falle einer Ablehnung einen völlig
unannehmbaren Kandidaten präsentieren. Etwa den bisherigen Eisenbahnminister Nikolai Aksjonenko, der als Günstling des einflußreichen und bei der linken Opposition verhaßten Finanzmagnaten Boris
Beresowski gilt. Dessen Ablehnung hätte Jelzin die Chance gegeben, die Duma aufzulösen.