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Analyse: Krieg der Armen

Von Ronald H. Tuschl

Politik

"Terror ist der Krieg der Armen. | Krieg ist der Terror der Reichen." | Sir Peter Ustinov


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Wer glaubte, die jüngsten Folterskandale in den irakischen Gefängnissen wären an Inhumanität und Menschenverachtung nicht mehr zu überbieten gewesen, der wurde während der letzten Tage eines besseren belehrt. Die Tragödie im nordossetischen Beslan markierte den Tiefpunkt inmitten aller bisherigen Geschehnisse des internationalen Terrorismus: Der Umstand, unschuldige Kinder in die skrupellosen Machenschaften der internationalen Politik mit hinein zu ziehen und an denselben Rache zu nehmen, macht nicht nur die betroffenen Angehörigen, sondern auch die Weltöffentlichkeit fassungslos.

Doch moralische Entrüstung über derartige Skrupellosigkeiten wird nicht ausreichen, um dem Problem des internationalen Terrors Einhalt zu gebieten, auch nicht eine Umstrukturierung der Streitkräfte im Kaukasus samt härterer Gangart, so wie dies Präsident Wladimir Putin angekündigt hat und auch keine erneute Bekräftigung des "Krieges gegen den Terror", so wie dieser von George W. Bush während seines republikanischen Wahlkampfs abermals beschworen wurde. Die Ereignisse von Beslan sind das Ergebnis einer jahrelang verfehlten Politik im Kaukasus, die bisher nur lokale, korrupte Eliten in Ossetien, soziale Verelendung im benachbarten Dagestan und Verwüstung aus den vorangegangenen russischen Kriegen in Tschetschenien hervorgebracht hat.

Ganz zu schweigen von den internationalen Erdöl-Kartellen, die ihre schützende Hand über eine der längsten Pipelines der Welt halten, und dadurch Tschetschenien die Unabhängigkeit verwehren. Michail Gorbatschow entließ zahlreiche moslemisch besiedelte Teilrepubliken der damaligen Sowjetunion in die Unabhängigkeit (Tadschikistan, Usbekistan, Kasachstan, Turkmenistan, etc.). Im Fall von Kasachstan ließ man sogar zu, dass die überaus große Teilrepublik mit nuklearen Waffenbeständen aus dem ehemaligen Sowjet-Imperium ausscheren konnte. Boris Jelzin handelte sogar mit moslemischen Teilrepubliken innerhalb Russlands (Tartastan) einen separaten Föderationsvertrag aus. Doch Tschetschenien wurde einfach in allen Belangen übergangen, nicht zuletzt wegen der nationalen und internationalen Erdöl-Interessen.

Der jüngste Versuch, die Anschläge von Beslan der Al Kaida anzuhängen und damit die "Achse des Bösen" in den Kaukasus hinein zu verlängern, gleicht einer Farce. Die russischen Sicherheitskräfte waren in dem dort vorherrschenden Chaos nicht einmal imstande, die Anzahl der hiesigen Terroristen, geschweige denn jene der festgehaltenen Geiseln zu ermitteln. Es stellt sich daher die Frage, woher man die Gewissheit nehmen kann, dass ein Großteil der Terroristen der Al Kaida angehören würden. Über die nationale, religiöse und ideelle Herkunft des Restes schweigt man sich bedachtsam aus. Durch derartige Mutmaßungen und Unterstellungen, wie solche auch unmittelbar nach den Anschlägen in Madrid vorgenommen wurden, werden letztendlich nur vorhandene Polarisierungen und Fronten verhärtet, sie tragen aber zu keiner Lösung des Konflikts bei.

Beslan markiert auch die Irrationalität und Aussichtslosigkeit des "Krieges gegen den Terror". Als am 11. September des Jahres 2001 zwei Boing 747 in die Zwillingstürme des WTC stürzten, fühlte sich Putin im Kampf gegen seinen innerrussischen Terror bestätigt und erhielt über all die letzten Jahre ideellen Rückhalt von seinem Amtkollegen Bush. Doch diese Strategie wird jetzt zum Bumerang: Die Hydra des internationalen Terrors bringt nach jedem Schlag neue grässliche Köpfe hervor. Es wäre an der Zeit zu erkennen, dass man mit Symptombekämpfung bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Ursachen keine Aussicht auf ein Ende des internationalen Terrors zu erwarten ist.

Was in Tschetschenien und all den benachbarten Teilrepubliken vonnöten wäre, ist eine ursachenorientierte und transregionale Lösung: Eine Klärung des Status von Tschetschenien, Dagestan, Nord- und Südossetien, Abchasien, etc. im Sinne einer international überwachten Unabhängigkeit oder eine durch internationale Organisationen überwachte und garantierte Autonomie. Ein zumindest teilweiser Rückzug von Erdöl-Lobbys aus dieser sensiblen Region oder die Abgabe eines rechtsmäßigen Anteils von Erdöl-Gewinnen zum Wiederaufbau der völlig zerstörten oder nicht vorhandenen Infrastruktur. Und eine endgültige Abkehr von der fehlgeschlagenen Anti-Terror-Strategie, die mehr Gewalt erzeugt als sie zu bezwingen vermag.

Sir Peter Ustinov hatte recht: Der internationale Terror ist ein Krieg der Armen gegen den terroristischen Krieg der Reichen. Es wäre endlich an der Zeit, eine friedenspolitisch nachhaltige Lösung zu finden, die der gesamten kaukasischen Region Rechnung trägt.

Ronald H. Tuschl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) in Stadtschlaining.