Studie: Mill i Görüs, Hizb ut-Tahrir und Salafismus als ideologische Zufluchtsorte für Muslime in Österreich.
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Wien. Obwohl die Lebenswelt eines muslimischen Jugendlichen nicht viel anders aussieht als die eines Nicht-Muslimen, erleben viele von ihnen täglich Diskriminierungen durch die Mehrheitsgesellschaft. Diese Ausgrenzungserfahrungen treiben immer mehr Muslime in die Arme von Gruppen unterschiedlichster Strömungen des Politischen Islam. In einer aktuellen Studie des Politologen Thomas Schmidinger werden mit Mill i Görüs, Hizb ut-Tahrir und den Salafisten zwei Organisationen und eine Ideologie vorgestellt, die exemplarisch für die verschiedenen Ausrichtungen des Politischen Islam in Österreich stehen. Wie Schmidinger betont, repräsentieren diese drei Gruppierungen jeweils nur Minderheiten innerhalb der muslimischen Bevölkerung Österreichs.
Mill i Görüs, in Österreich bekannt als Österreichische Islamische Föderation, ist ein europäischer Dachverband, der ideologisch und organisatorisch mit der türkisch-islamischen Partei "Saadet Partisi" (SP) verbunden ist. Die Partei des Gründers und ehemaligen türkischen Premiers Necmettin Erbakan (1926-2011) ging aus der Vorgängerpartei "Fazilet Partisi" hervor, nachdem diese im Jahr 2001 verboten wurde. Wie Schmidinger in seiner Studie erwähnt, hätte sich die SP vom aggressiven Antisemitismus der 1980er Jahre "zumindest öffentlich verabschiedet". Mit dem Niedergang der Partei sei der europäische Flügel im Vergleich zur Partei bedeutender und "damit auch von der Mutterpartei unabhängiger geworden", sagt Schmidinger.
Fehlende Selbstreflexion
Obwohl antisemitische und demokratiefeindliche Äußerungen in der Öffentlichkeit vermieden werden, würden diese in der internen Diskussion etwa auf Facebook-Seiten immer wieder auftauchen, bemerkt der Politikwissenschaftler. In einer Presseaussendung zu den Vorwürfen der Studie verweist die Islamische Föderation auf ihre offizielle Position, laut dieser eine pluralistische Gesellschaft, Religionsfreiheit und die Gesetze des Landes Österreich respektiert werden. Antisemitismus und "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" würde man ablehnen. Schmidinger begrüßt die klare Position in der Öffentlichkeit, verweist aber auf die nicht ausreichende Auseinandersetzung mit der eigenen ideologischen Herkunft innerhalb der Organisation.
Europaweit werde Mill i Görüs unterschiedlich eingeschätzt. Der deutsche Verfassungsschutz hält die Gruppierung für "die größte islamistische Organisation in Deutschland", deren langfristiges Ziel "die fundamentale Umgestaltung der Türkei, die Wiederherstellung einer ‚Großtürkei‘ und schließlich eine islamische Weltordnung" sei. In österreichischen Verfassungsschutzberichten wird Mill i Görüs mit keinem Wort erwähnt. "Das österreichische Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung hat lediglich die Aufgabe des Schutzes der verfassungsmäßigen Einrichtungen der Republik Österreich und der Bekämpfung des Terrorismus", gibt Schmidinger zu verstehen. Mill i Görüs hätte mit Letzterem aber nichts zu tun.
Die Türkei-Zentriertheit der politisch-islamischen Massenbewegung veränderte sich in den vergangenen Jahren hin zu einem Fokus auf die islamische Diaspora in Europa. Ein Ergebnis davon ist die Wahl des aus den Reihen der Mill i Görüs stammenden Präsidenten der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, Fuat Sanac.
Als panislamische Bewegung versteht sich die 1953 in Ostjerusalem gegründete Hizb ut-Tahir. Die Bewegung betrachtet die muslimische Existenz in Europa als vorübergehendes Exil, das durch die Errichtung eines Kalifats im islamisch dominierten Teil der Welt beendet wird. Politische Partizipation in den Exilländern ist nicht vorgesehen. Die Mitglieder verfügen meist über akademische Abschlüsse. Wie Schmidinger betont, kommen auch sie über "Entfremdungs- und Diskriminierungserfahrungen als Muslime" zu "dieser Absolutierung einer ‚islamischen Identität‘".
Scharia für Österreich
Im Gegensatz zu Hizb ut-Tahrir sehen sich Angehörige salafistischer Gruppen als Österreicher, die ihr Heimatland als Missionsgebiet verstehen. Die Einführung eines islamischen politischen Systems mit der gesamten Scharia wird nicht nur für Österreich, sondern auch für Europa und alle anderen Erdteile angestrebt. Dabei dient die islamische Urgemeinde zur Zeit des Propheten als Vorbild. Da es sich dabei um eine nachträgliche Konstruktion handelt und wenig gesichertes Wissen über die Frühphase des Islam existiert, gibt es unterschiedliche Vorstellungen innerhalb der Gruppe. Die Anwendung von jihadistischen und terroristischen Methoden wird nicht von allen Mitgliedern gutgeheißen. Die gesamte historische Entwicklung der islamischen Theologie wird von allen Salafisten abgelehnt.
Gemeinsamkeiten in den drei Strömungen sieht Schmidinger in vier Bereichen: Zum einen die empfundene Benachteiligung von Muslimen im Westen, die mit internationalen Konflikten wie Israel/Palästina verbunden wird. Weiters spielen Geschlechterverhältnisse und dabei vor allem Kleidungs- und Verhaltensvorschriften für Frauen eine Rolle. Homophobie ist in allen drei Strömungen verankert, insbesondere bei den Salafisten. Als vierten Punkt verweist Schmidinger auf den Antizionismus und Antisemitismus, der hier weit verbreitet ist. Dieser würde sich nicht nur gegen Israel richten, sondern könnte auch das Zusammenleben mit Juden in Österreich gefährden.