Krankheit zu kulturalisieren, ist laut Ikemba-Gründer Nwoha gefährlich.
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Wien. Anderes Land, andere Schmerzen: Im Spitalsalltag tun sich für Migranten nicht nur sprachliche Probleme auf. In Graz ist deswegen 2007 der gemeinnützige Verein Ikemba entstanden, der sich auf die psychosoziale und gesundheitliche Versorgung von Migranten spezialisiert hat. Das neu gestartete Projekt heißt "Health Literacy 4 everyone". Das Ziel ist es, dass sich Migranten ihrer eigenen Gesundheit bewusst und Ärzte interkulturell kompetenter werden.
Der Wirtschafts- und Sozialpädagoge Livinus Nwoha gründete den Verein. Mit der "Wiener Zeitung" sprach der gebürtige Nigerianer über die kulturelle Bedeutung von Schmerz, ungeduldige Ärzte und die Frustration auf beiden Seiten des Systems.
"Wiener Zeitung": Migranten weisen in Österreich eine geringere Lebenserwartung auf - sowohl im Vergleich zu der "abgestammten" Bevölkerung als auch zu ihren eigenen Eltern. Was sind die wesentlichen Gründe dafür?Livinus Nwoha: Die eigene Migrationsgeschichte prägt auch den Körper. Sie riskieren bei der Flucht aus der Heimat oft ihr Leben. Sobald die Person endlich im Ausland angekommen ist, gehen die Schwierigkeiten weiter: Er wird diskriminiert, die Systemumstellung führt zu Stress und Sorgen. Jeder Mensch braucht Anerkennung und ein gesundes Selbstwertgefühl - man kriegt beides nicht, wenn man beispielsweise als Überqualifizierter in einem miesen Job steckt. Das alles hat Auswirkungen.
Trotzdem gibt es hierzulande in den meisten Fällen eine bessere Gesundheitsversorgung als in den jeweiligen Heimatländern.
Ja, aber sie fallen unter den Tisch. Das österreichische System ist nur für die gut, die sich auskennen. Es ist an der gut gebildeten Mittelschicht orientiert. Migranten können viele Angebote aber gar nicht annehmen, weil sie nicht wissen, dass es die gibt, oder sich vom System selbst eingeschüchtert fühlen. Natürlich gibt es auch die viel zitierte sprachliche Komponente: Viele können sich in Deutsch nicht gut ausdrücken und Ärzte haben oft keine Zeit, sich genauer mit dem Patienten zu befassen. Oder keine Geduld. Das erlebe ich immer wieder, wenn ich Betroffene bei ihrem Arztbesuch begleite.
Was ist mit der kulturellen Komponente?
Krankheiten können sich je nach Kulturkreis anders darstellen. Hat jemand Schmerzen in der Brust, kann das vieles sein: Herzinfarkt, Depression oder Atembeschwerden. Schmerzen sind auch kulturell zu verstehen. Wenn der Arzt keine Zeit hat, auf den Patienten einzugehen, wird aneinander vorbeigeredet.
Haben andere Kulturkreise also auch andere Krankheiten?
Das Thema Krankheit zu kulturalisieren ist gefährlich. Was aber anders ist, ist die Bezeichnung und die Erklärungsversuche von Symptomen. Also welche Namen man den Beschwerden und dem menschlichen Leiden gibt. Das unterscheidet sich. Aber das kann man auch nicht verallgemeinern. Aber bei dem Versuch sich über Beschwerden und Symptome zu verständigen, gerade wenn diese Verständigung zwischen den Patienten und dem medizinischen Personal nicht gelingt, kommt es zu Missverständnissen, falschen Diagnosen und möglicherweise auch zu Fehlbehandlungen oder zu anderen schweren Folgen.
Glaubt man Statistiken, so rauchen Migranten mehr, haben doppelt so häufig Diabetes und leiden öfter an psychischen Erkrankungen.
Deswegen setzen wir in unserem - vorerst zweijährigen - Projekt auf Begleitung zu Arztterminen, Aufklärung durch Vorträge, Kommunikationskurse. Damit wollen wir Bewusstsein für die eigene Gesundheit schaffen. Wir setzen auf Schlüsselpersonen, wie Imame oder Pastoren, die großes Vertrauen genießen. Sie werden meistens im Krisenfall kontaktiert. Ihre Meinung und ihr Handeln haben großes Gewicht für die Gruppe.
Aber sind alle Migranten überhaupt so gut erreichbar?
Nein. Viele trauen sich aber auch nicht, aus sich herauszugehen und die eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren. Es gibt den Fall eines Familienvaters, der aus materieller Not jahrelang auch im Krankheitsfall arbeiten ging, bis ihn eines Nachts seine Gattin tot im Bett auffand. Wir setzen in unserem Projekt deswegen auf Aufklärung und Basis-Infos über Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention in der jeweiligen Muttersprache. Aber Integration ist keine Einbahnstraße.
Sie arbeiten vorerst mit der afrikanischen, der russisch-tschetschenischen, rumänischen und albanisch-sprachigen Community in Graz. Warum haben Sie sich genau diese Gruppen ausgesucht?
Unsere Arbeit, die Outreach-Arbeit, verlangt es, sich an Communitys zu orientieren. Je mehr finanzielle Unterstützung wir bekommen, desto breiter können wir auch arbeiten, desto mehr Communitys können wir in unsere Arbeit einbeziehen. Das Projekt, wie es zurzeit ist, kann man somit als innovatives Pilotprojekt betrachten, dessen Umsetzung man je nach Förderhöhe auch dann später auf andere Communitys übertragen kann.
Welches Rezept hat das Projekt gegen strukturelle Barrieren im Gesundheitssystem?
Dort brauchen wir eine Haltungsänderung. Österreich ist ein Einwanderungsland, ob man es will oder nicht. In der Ausbildung des Gesundheitspersonals muss deswegen interkulturelle Öffnung der medizinischen Versorgung in Österreich - das heißt: Förderung der interkulturellen Kompetenzen der Mitarbeiter im Gesundheitswesen - zu einem fixen Bestandteil werden. Wir bei Ikemba setzen uns konkret erst im Rahmen des Projekts mal auf Workshops und Begleitung sowie Kulturdolmetsch für Ärzte, Pfleger und anders Gesundheitspersonal.
Würde es helfen, wenn mehr Menschen mit Migrationshintergrund im Gesundheitswesen arbeiteten?
Ja, es würde helfen, wenn diese Mitarbeiter die Anerkennung und Wertschätzung für ihre Qualifikationen bekommen. Es muss diesen Menschen möglich sein, ihre Fähigkeiten im Job einzubeziehen. Was hilft es, einen gut qualifizierten Migranten als Putzpersonal im Spital einzusetzen? Nichts. Schlussendlich schadet es jedem, wenn interkulturelles Potenzial verloren geht. Dem Patienten, dem Krankenhaus und: Es kommt auch teuer für den Staat.
Zur Person
Livinus
Nwoha
ist Wirtschafts- und Sozialpädagoge und gründete 2007 den Verein Ikemba in Graz.